Wer zählt die Komponisten, nennt die Namen, die gastlich hier zusammen kamen: In Weingarten, dem kleinen oberschwäbischen Städtchen mit der größten Basilika nördlich der Alpen. Eine resolute Pianistin hatte sich in den Kopf gesetzt, hier ein Festival für Neue Musik ins Leben zu rufen, und da Rita Jans – so heißt die Enthusiastin für die Moderne – gut befreundet mit zwei geistigen Wegbereitern der Avantgarde war, nämlich Heinz Klaus Metzger und Rainer Riehn, stand dem raschen Erfolg nichts mehr im Wege. Metzger und Riehn lockten den mit ihnen freundschaftlich verbundenen John Cage auf den hohen Basilika-Hügel. Radikaler, progressiver, innovativer ging es damals kaum noch.
Damals, das war 1987, und schon ein Jahr danach folgte der nächste spektakuläre Auftritt: Helmut Lachenmann klärte ein aufmerksames Publikum über die speziellen Eigenarten seines Komponierens auf. Dieter Schnebel und Mathias Spahlinger hießen die beiden nächsten Jahreskomponisten, und dann entdeckte Karlheinz Stockhausen die spirituelle Ausstrahlung der hochgelegenen, geistlichen Stätte. Er war so begeistert, dass er Rita Jans vorschlug, dort ein regelmäßiges „Festspiel“ aufzuziehen, natürlich vor allem im eigenen Namen. Aber dazu kam es aus verschiedenen Gründen nicht, zum Vorteil vieler anderer Komponisten und Komponistinnen, die in den folgenden zwei Jahrzehnten die Weingartener Musiktage mit ihrer Anwesenheit zu einem überregional beachteten Ereignis werden ließen. Stockhausen kam noch zweimal, Wolfgang Rihm, Klaus Huber, Kagel, Kurtág stellten sich vor, Komponistinnen waren eindrucksvoll mit Adriana Hölszky, Violeta Dinescu, Rebecca Saunders, Isabel Mundry und Sofia Gubaidulina präsent.
Bei den Weingartener Musiktagen schaut man auch gern einmal in die eigene Vergangenheit zurück. Wen könnte man, möchte man, wie seinerzeit mit Stockhausen, wieder einmal einladen? Rita Jans fragte vorsichtig bei dem von ihr hochgeschätzten Helmut Lachenmann an, der sogleich von der Idee, nach vierundzwanzig Jahren wieder nach Weingarten zu kommen, sehr angetan war. Es sind ja in dieser Zeit etliche neue Werke entstanden, die man dort bestens aufführen könnte. Zugesagt und getan: Lachenmann erschien, älter geworden aber jung im Geiste, zeigte sich gutgelaunt und wortgewaltig, wenn es darum ging, die eigenen Kompositionen dem Publikum und auch den anwesenden Interpreten zu erläutern.
Das Sinnstiftende an Weingartens Musiktagen ist die Konzentration auf jeweils einen Komponisten. Dabei gewinnt man oft einen umfassenderen Eindruck als bei Einzelaufführungen inmitten eines umfangreichen Neue-Musik-Festivals mit zwei Dutzend Novitäten von ebenso vielen Komponisten. Zum Auftakt der Musiktage standen die drei Streichquartette Lachenmanns auf dem Programm: „Gran Torso“, komponiert 1971/72, der „Reigen seliger Geister“ von 1989 und „Grido“ von 2001/2. Drei Stadien einer kompositorischen Entwicklung: Die Ablösung tradierter Klangvorstellungen durch einen Klang, der sich aus seiner Herstellung entwickelt -- mechanische Geräusche, Energiegewinn aus neuen Zuordnungen in „Gran Torso“. Das wirkt auf den ersten „Hör“-Blick eher abstrakt und spröde, gewinnt aber eine umso drängendere Innenspannung wenn eine Interpretation, wie hier durch das Salzburger „stadler quartett“, die einzelnen Klangpartikel mit großer Intensität expressiv auflädt. Der „Reigen“ mit seinen gleichsam „aus der Luft“ gegriffenen Tönen und komplexen Spieltechniken wirkte bei den Stadlers fast wie ein Stück impressionistischer Natur-Programm-Musik, sensibel durchgehört. Und „Grido“, den „Freunden“ vom Arditti Quartett in einer früheren Besetzung (Graeme Jenkins, Rohan de Saram, Irvine Arditti, Dov Scheidlin) gewidmet (aus den Anfangsbuchstaben der Vornamen ergibt sich der Titel „Grido“), überspringt gleichsam die Erfahrungen der ersten beiden Quartette und führt in die gewonnenen Strukturen eine ungewöhnliche, neue Expression ein, die von den Musikern geradezu „brennend“ ausgespielt wurde: Faszinierend!
Faszinierend auch die Darstellung von „Mouvement (vor der Erstarrung)“ durch das Ensemble „musikFabrik“ unter Enno Poppe, der sich zu einem kompetenten Dirigenten für neue Musik entwickelt hat: Ein Komponist schaut eben oft besser in komplizierten Notentexten „durch“, entsprechend authentischer, transparenter, gespannter entfaltet sich das Klangbild. Ebenso perfekt agierte das Ensemble bei Lachenmanns „…Zwei Gefühle…Musik mit Leonardo“, wobei der Komponist, wie so oft, selbst den Sprecher übernahm – siehe unser Foto oben.
Zum Konzept des Weingartner Programms gehört immer auch die Begegnung des Komponisten mit jungen Interpreten seiner Werke. In Erinnerung ist eine wunderbare Instruktionsstunde György Kurtágs für Klavierschüler, denen er die Kunst der Ton-Energie-Entfaltung bei jedem Anschlag demonstrierte. Helmut Lachenmann korrigierte diesmal nur den Vortrag einer jungen Sängerin von einigen seiner Lieder --- das war vielleicht etwas zu knapp im Angebot. Im letzten Konzert wurde das Defizit dann mehr als ausgeglichen. Lachenmann setzte sich persönlich ans Klavier, um seine „Wiegenmusik“, „Ein Kinderspiel“ und „Guero“ authentisch darzustellen. Und die Sopranistin Elizabeth Keusch verwandelte sich, am Klavier perfekt begleitet von Yukiko Sugarawa, in die „Klangquelle“ für die 2007/08 entstandenen „Got Lost“- Stücke auf Texte unter anderem von Nietzsche, Pessoa und aus einer „Got Lost“-Annonce: Ein virtuoses „Stimm-Spiel“, das sich für die kontrastierenden Texte einen eigenen Stimm-Klang-Raum schafft.
Zum Schluss dann noch das „Allegro sostenuto“ für Klarinette, Violoncello und Klavier – ein fast schon equilibristisches Jonglieren und Hantieren mit „Resonanzen“ und „Bewegungen“, von dem Klarinettisten Dirk Altmann, dem Cellisten Hans-Peter Jahn und der Pianistin Yukiko Sugawara mit großem Elan und gestochener Präzision ausgeführt. In Weingarten gehören auch die Interpreten zur Spitzenklasse. Und für Hans-Peter Jahn bedeutete der Auftritt zugleich einen Blick in eine vorstellbare „zweite Zukunft“: Der studierte Cellist geht im kommenden Frühjahr in Pension, nach dem von ihm initiierten Stuttgarter „Éclat“-Festival. Wer seine Nachfolge beim Südwestrundfunk (SWR) als verantwortlicher Neue-Musik-Redakteur antritt, wurde bisher nicht mitgeteilt.
Weingarten muss das nicht unmittelbar berühren.Im nächsten Jahr kommt als Komponist einer der gegenwärtig interessantesten und individuellsten Persönlichkeiten nach Weingarten: Mark Andre. Da möchte man den verantwortlichen Programmgestaltern schon einmal einen kleinen Hinweis geben: Die Siemens-Kulturstiftung hat vor einigen Jahren zusammen mit den jeweils örtlichen Goethe-Instituten eine Reihe von Komponisten eingeladen, in großen Stadtregionen in Asien und Afrika Erfahrungen und Material für neue Kompositionen zu gewinnen. Mark Andre hielt sich einige Wochen in Istanbul auf. Seine Musik, die dabei entstand, zeichnet sich durch eine wunderbare Spiritualität und Einfühlungskraft aus und verband sich perfekt mit dem begleitenden Film der Siemens-Stiftung. Eine Vorführung in Weingarten würde das Mark-Andre-Porträt sicher gut ergänzen.