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Ligetis Bläserbagatellen im Tanzambiente. Foto: Oran Greier
Ligetis Bläserbagatellen im Tanzambiente. Foto: Oran Greier
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Klassik in der Disco

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Eindrücke vom 4. Podium-Festival in Esslingen
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Der Erfolg beim Publikum ist ihnen längst sicher. Die Säle sind voll, die Esslinger begeistert bis hin zum Oberbürgermeister, der mehr als einmal erscheint. Preise haben sie abgeräumt: 2010 einen Echo Klassik und verschiedene weitere in Richtung Design und Marketing. Was ist das Besondere, das „Innovative“ am Podium Festival, das nun zum vierten Mal stattfand?

Zunächst trifft die Bezeichnung „Junges Europäisches Musikfestival“ durchaus zu. Das Durchschnittsalter der Aufführenden dürfte rund 20 Jahre unter dem anderer Festivals liegen. Steven Walter, der Initiator und künstlerische Leiter, ist 25. Als Cellist erhielt er 2005 den Bundespreis Jugend musiziert. Aus internationalen Wettbewerben rekrutieren sich viele der Teilnehmer. Sie stürzen sich mit Elan in die Aufgabe. Mit Verve saust der Bogen auf die Saiten nieder, bis die Haare gleich büschelweise herabhängen. Wenn der 19-jährige Jonian Ilias Kadesha bravourös Strawinskys Divertimento auf der Violine vorträgt oder die ebenso junge Mexikanerin Dana Zemtsov, die gleichwohl schon zum dritten Mal dabei ist, die virtuose Fantasie über Bizets „Carmen“ von Pablo de Sarasate auf der Viola spielt, springt der Funke zum Publikum schnell über. Das entrückte Lächeln, das dabei immer wieder ihre Lippen umspielt, kündet eher von Unsicherheit – wohin schauen, wenn sich die Blicke der Zuhörer gebannt auf einen richten? –, tut aber der Glanzleistung keinen Abbruch.

In anderen Fällen überwiegt aber die abgeschaute Pose. Wenn Roope Gröndahl in Mozarts Sonate für Violine und Klavier Nr. 21 in den reinen Klavierpassagen der Gaul durchgeht, kann der Violinist Yusuke Hayashi ihm nur noch hinterher eilen. So verkehrt sich das Verhältnis von Violinstimme und Begleitung, und die zwar raffinierte, aber immer leichte Musik Mozarts wird vollkommen unpassend mit Pathos aufgeladen, bis der rote Faden verloren geht. Wenn der Dirigent Yoel Gamzou beim Abschlusskonzert in Gustav Mahlers „Lied von der Erde“ mit dem Taktstock herumfuchtelt, als sei ihm eine Wespe unter den Hosenbund geschlüpft, ist der Zusammenhang mit dem getragenen Tempo der ersten Sätze nur schwer erkennbar, und der versierte Tenor Hans-Georg Priese muss sich mächtig ins Zeug legen, um das zu höchstem Fortissimo aufgestachelte Kammerorchester zu überschreien. Auch wenn Gamzou anschließend Priese und der unerschütterlichen Renée Morloc, die das Lied von der Erde seit Längerem in ihrem Repertoire hat, alle Ehre erweist: Der Gesang sollte im Mittelpunkt stehen, nicht Dirigent und Orchester, und zwar schon während der Aufführung.

Eine weitere Besonderheit des Festivals sind die Veranstaltungsorte: Der Bürgersaal des Alten Rathauses und der Kaisersaal des barocken, ehemaligen reichsstädtischen Rathauses – wenn auch unorthodoxerweise auf niedrigen, weich aufgepumpten Sitzbällen –, mittelalterliche Kirchen, ein altes Kino, eine Diskothek. Dort erreichen die Musiker ein junges Publikum, das sich nicht unbedingt in einen Konzertsaal verirren würde. Allerdings ging das uraufgeführte elektronische Werk des DJs Stefan Goldmann nach einleitenden Werken von Ysaÿe und Bach vollkommen im Gesprächslärm unter, und nach einer gelungenen Aufführung von John Adams’ „Shaker Loops“ verschwand etwa die Hälfte des Publikums, obwohl das Programm noch keinesfalls zu Ende war. Mit Ligetis rhythmischen Sechs Bagatellen für Bläserquintett und einer fein ausgewogenen Komposition für Diskotheken-taugliche Live-Elektronik und Streichquartett von Marshall und Kellen McDaniel folgten noch zwei weitere Höhepunkte. Eher wäre der einleitende Klassikteil, zumindest aber der eilig heruntergespielte Bach, verzichtbar gewesen.

Der Akzent liegt auf klassischer Musik, besser gesagt Barock bis Spätromantik, doch es ist den Veranstaltern nicht vorzuwerfen, dass sie sich an neuere Musik nicht herantrauen. Allerdings zeigt sich bei Wolfgang Rihms „Musik für drei Streicher“ von 1977 dann doch die Fallhöhe zu versierten Neue-Musik-Spezialisten wie dem trio recherche, das die Komposition auf CD eingespielt hat. Die Interpreten mühten sich redlich mit dem komplexen Werk, das zwischen dreifachem Forte und dreifachem Piano wenig Zwischentöne kennt, unterstützt von der Konzertpädagogin Lisa Unterberg, die kurze Fragen und Kommentare, Notenausschnitte und Rihm-Zitate an die Wand projizierte. Diese Mühe ist anzuerkennen, schon allein deswegen, weil ein solches Konzert kein Selbstläufer ist: Das Publikum strömte in diesem Fall nicht ganz so zahlreich wie sonst. 

Umso mehr als der Veranstalter sonst Neue Musik eher in homöopathischen Dosen verabreichte, so war das Streichquartett Opus 5 von Anton Webern in einem speziellen Sandwichkonzert in dünnen Scheiben eingelegt zwischen die Sätze von Antonín Dvořáks Klavierquintett A-Dur Opus 81. Ein Erlebnis der besonderen Art, nicht nur weil die 120-Grad-Drehung des Publikums auf den Sitzbällen von einem Podium zum anderen immer eine gewisse Unruhe in den Saal brachte, sondern wegen des nicht allzu glücklichen Kontrasts: Eingeschoben zwischen die langen Sätze der „romantischen“ Musik Dvořáks, vorgetragen mit vielen pathossteigernden Ritardandi und Accelerandi, wirkten die außerweltlichen Webern-Einlagen dann doch eher wie irritierende Unterbrechungen im gefühlvollen Schwelgen.

Besser, wenn auch nicht frei vom publikumswirksamen Klischee einer vermeintlichen Spiritualität, waren die vier Stücke von Alfred Schnittke zwischen Bach und Hildegard von Bingen in der effektvoll mit Kerzenlicht und Scheinwerfern erleuchteten Franziskanerkirche. Pauken, Cello und Kontrabass, Cembalo, Harfe und Röhrenglocken entfalteten im Chor des mittelalterlichen Kirchenbaus eine ganz eigene klangliche Wirkung. Dies gilt noch mehr für Wang Jues einleitenden „Klangdom“ zum Abschlusskonzert in der Frauenkirche, der von Gongschlägen ausgehend über aneinander geschlagene Pflastersteine schließlich zu einer enormen Spannungssteigerung anschwoll.

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