Es glitzert und gleißt wie bei einer Schneelandschaft in der Sonne, und wie beim Blick ins Gegenlicht beginnen die Konturen zu zerfließen. In Oliver Schnellers „Resonant Space“ für zwei Klaviere und zwei Schlagzeuger löst sich der temperierte Klavierklang in mikrotonales Flirren auf. Die Verschmelzung von Klavier, Vibraphon und Glockenspiel erzeugt Wahrnehmungsirritationen, so dass man sich unwillkürlich fragt, wo denn dieser vertrackte Zwitterklang eigentlich herkommt – von den Instrumenten auf der Bühne scheint er sich weitgehend abgelöst zu haben.
Ähnlich geht Malika Kishino in „Aqua Vitae“ vor. Die fixen Tonhöhen des Tasteninstruments umhüllt sie mit „liquiden“ Schlagzeugklängen und bringt das Ganze mit Live-Elektronik zusätzlich zum Fließen: Der Klavierklang läuft an den Rändern ins Undefinierbare aus wie die Umrisse der Gestalten von Francis Bacon. Sven-Ingo Koch wiederum unterläuft in der Uraufführung von „Straßen. Wiesen“ den konstruktiven Plan durch spielerische Freiheit, was bis zur überraschenden Einbeziehung konkreter Geräusche reicht. Eindrucksvoll demonstrierte in diesem Konzert das Ensemble 2x2, wie man das wohltemperiert Festgefügte verflüssigen kann. Die klanglich reizvolle Besetzung mit zwei Klavieren (Heather O’Donnell und Benjamin Kobler) und zwei Schlagzeugern (László Hudacsek und Rie Watanabe) birgt zweifellos noch viel Potenzial für klanglich experimentierfreudige Komponisten.
Vorzügliche Interpreten sind ein Markenzeichen des Festivals „Piano plus“, das unter der künstlerischen Leitung der Pianistin Catherine Vickers nun schon zum vierten Mal im ZKM Karlsruhe über die Bühne ging. Wenn etwa Pi-hsien Chen Stockhausens Klavierstück VI spielt, so ist das absolut schallplattenreif. Für pianistische Akkuratesse bürgten auch das Klavierduo Lluïsa Espigolé und Weronika Krówka (mit dem aus kleinen Clustern und Farbgeräuschen aufgebauten Stück „Tropfen/Skalen“ von Martin Hiendl) und der von Götz Dipper an der Elektronik unterstützte Christian Nagel. Eingerahmt von Werken von Jonathan Harvey spielte Nagel John Cages „Electronic Music for Piano“. Die Komposition von 1964 gehört zu den Stücken Cages, bei denen man sich fragt, warum sich immer wieder intelligente Musiker an so einer langweiligen Tapetenmusik abarbeiten – ein dreiviertelstündiges, schematisches Töne-Vorzeigen, betrieben mit buchhalterischer Leidenschaft.
Im Gegensatz zu diesem Gang durchs Avantgarde-Museum erwies sich die Kombination von Klavier mit Elektronik und Video viel spannender. Mit Witz und Fantasie ließ die junge Kanadierin Annesley Black in „4238 de Bullion“ das Klavierspiel und seine Abbildung im Live-Video in der Art eines Trompe-l’œil auseinanderdriften. Der Amerikaner Mark Barden nutzte die Verbindung Klavier/Video in „Die Haut Anderer“ für eine menschlich anrührende Erzählung, und in „Mach Sieben“ verdoppelte Michael Beil das Spiel am Flügel im Video optisch seitenverkehrt und zugleich im Krebs; die Synchronisation mit ihrem Spiegelbild gelang der Pianistin Rei Nakamura mit atemberaubender Perfektion. Bojidar Spassov öffnete in der von Catherine Vickers uraufgeführten audio-visuellen Komposition „Durchschlagszunge“ unerwartete Perspektiven auf die Ränder der Gesellschaft.
Der heutige Reichtum an Konzepten und Realisationen im Schnittpunkt von Instrument, Elektronik und Video hat eine seiner Wurzeln im Werk des vor einem Jahr verstorbenen Karlheinz Stockhausen. Das machte der Stockhausen-Tag, mit dem das dreitägige Festival schloss, schlagartig klar. Er brachte eine Diskussionsrunde und ein Referat von Rudolf Frisius, der es unternahm, mit einem Feuerwerk an Fakten das Ungesagte und Unerklärbare im Werk des musikalischen Visionärs besser verstehbar zu machen sowie ein gewichtiges Konzert. Erhellend war die zweifache Aufführung von „Kontakte“ für Klavier, Schlagzeug und Elektronik (1958–60), einem Schlüsselwerk der Gattung der instrumental-elektronischen Musik. Die Version ohne Instrumente legte den Erfindungsreichtum bloß, mit dem Stockhausen in den Pioniertagen der Elektronik mit der Klangmaterie umging. Benjamin Kobler, der zuvor schon das herausfordernd schwierige Klavierstück X gespielt hatte, und László Hudacsek erwiesen sich dabei als Stockhausen-Interpreten von hohem Rang.