Vor zwei Jahren ging das Internationale Musikfest Hamburg mit dem markigen Ein-Wort-Motto „Verführung“ an den Start. Darunter quetschte man damals ein Angebot mit eher zufällig wirkenden Einsprengseln. Umso konsistenter war die Handschrift der zweiten Runde, die gerade zu Ende gegangen ist. Freilich konnte im Planungsstadium niemand ahnen, dass sich das Thema „Freiheit“ als künstlerische Stellungnahme von höchster politischer Aktualität lesen lassen würde.
An dramaturgischem Mut haben die Verantwortlichen es nicht fehlen lassen. Kurzfristig nahmen sie sogenannte „Freiheitsstimmen“ mit ins Programm, selbstverfasste Texte von Flüchtlingen und Zugewanderten. Es wirkte zwar etwas unbeholfen, die Verlautbarungen jeweils vor Konzertbeginn vom Band einzuspielen. Dass sich einige Hörer die Störung ihres Wohlfülmodus in Buhrufen zum Ausdruck brachten, gereicht der Idee allerdings zur Ehre.
Bereits vor der Premiere war „La Passione“, Romeo Castelluccis und Kent Naganos Lesart von Bachs Matthäus-Passion, Stadtgespräch. Doch die yachtweiß ausstattete Produktion hinterließ einen zwiespältigen Eindruck. Mochte Castellucci auch einen auf der Seite liegenden Reisebus über die Bühne der Deichtorhallen schicken oder ein ausgestopftes Lamm auf den Boden bluten lassen, das Ganze blieb eher steril, als dass es schockiert hätte. Immerhin erreichte Castellucci, indem er sich dem theatertypischen „als ob“ verweigerte, eine fast überreizte Bewusstheit des Sehens.
Die Musik blieb dagegen eher Folie – ganz im Gegensatz zu „Il prigioniero“. Thomas Hengelbrock und dem frisch umgetauften NDR Elbphilharmonie-Orchester gelang mit dem Einakter von Dallapiccola ein früher Höhepunkt des Festivals. Auch sie begannen mit der Matthäus-Passion, zeichneten die durch den Eingangschor mäandernden Linien mit feinem Stift nach – bis die ersten Töne der Oper das motivische Kreisen mit einem instrumentalen Aufschrei zerrissen. In der folgenden Stunde brachten die Künstler zum Glühen, was eine menschliche Existenz zwischen Hoffnung und Verzweiflung bereithalten mag.
Dass der Gehalt des Wortes Freiheit womöglich erst da Kontur gewinnt, wo diese fehlt, das zeigte auch die Reihe „Überlebensmusik“. Nicht alle Werke verfolgter Komponisten, die im Kleinen Saal der Laeiszhalle erklangen, waren tatsächlich in akuter Bedrängnis entstanden. Neben Schostakowitschs Dauerklagen moussierte jazzige Lebensfreude, und wie Ullmann in seinem „Liederbuch des Hafis“ einen der bedeutendsten Dichter des Orients, Muslim obendrein, bei den eigenen Lobpreisungen nahm und die Freuden des Weingenusses besang, das klang wie eine Trotzreaktion auf die grassierende panreligiöse Gesinnungskontrolle.
Das Ensemble Resonanz und der Stimmkünstler David Moss zogen sich Schönbergs „Ode to Napoleon Buonaparte“ durch die Zähne, die Hamburger Symphoniker kleideten unter ihrem Chefdirigenten Jeffrey Tate Voltaireschen Sarkasmus in den Schwung des kongenialen Musicals „Candide“ von Bernstein, und Thomas Hampson schleuderte bei seinem Liederabend die Zeile „Die Gedanken sind frei“ aus Mahlers Wunderhorn-Zyklus mit dem gebührenden Zorn ins Publikum.
François-Xavier Roth und sein Orchester Les Siècles wiederum nahmen das Motto genuin poetisch und kreuzten Ravels „Daphnis et Chloé“ mit Strawinskys „Feuervogel“. Keine zwei Wochen später machte Roth erneut Station in der Laeiszhalle, diesmal auf seiner Abschiedstournee mit dem SWR Symphonieorchester Baden-Baden und Freiburg. Auf dem Programm: Schostakowitschs Violinkonzert Nr. 1, „Amériques“ von Edgard Varèse und eine Fünfte Beethoven, wie sie sich furioser nicht mehr denken ließe. Roth-Mentor Pierre Boulez hätte es gefallen.
Der stand im Mittelpunkt eines fast metaphysischen Raumklangprojekts in der Hauptkirche St. Michaelis. Kent Nagano und das Philharmonische Staatsorchester Hamburg verbanden Renaissance mit Moderne, nämlich zwei Canzone für Bläserchor von Gabrieli mit Boulez’ „Répons“ aus dem Jahre 1981. In der halligen Akustik ergaben die Teile der Canzone ein ganzes Drittes, und „Répons“ schob die Grenzen des Hörens noch weiter hinaus. Die zahlreichen Einzelspieler, das Ensemble und die Lautsprecher waren auf sieben verschiedenen Niveaus aufgestellt, und das bedeutete: Es war für den einzelnen Hörer unmöglich, die gesamte Partitur zu erfassen. Im kreisenden Flirren des Schlagzeuges erreichte ihn gelegentlich eine Botschaft von der Erde, vulgo vom Ensemble, das nicht verstärkt war und für diesen Höhenflug der besonderen Art als Bodenstation fungierte.
Und was bleibt? Die Erinnerung an Kleinodien wie Igor Levits Abend mit Frederic Rzewskis Variationen „The People United“ oder Patricia Kopatchinskajas furchtlose Expeditionen zwischen Mittelalter und Moderne, Beethoven und Avantgarde. An Debatten. An staunende Klassik-Novizen. Ganz nebenbei hat das Festival eine Reihe neuer Klassik-Spielorte auf die örtliche Landkarte gesetzt. Mögen sie erhalten bleiben, wenn der gläserne Leuchtturm an der Kehrwiederspitze den Betrieb aufnimmt.