Die Opern von Richard Strauss, Giacomo Puccini und vor allem Richard Wagner gehörten und gehören noch immer zum Kernrepertoire sowohl der Essener Philharmoniker als auch des Spielplans des Essener Aalto-Theaters – Stefan Soltesz hat dieses Repertoire während seiner langen Amtszeit als Generalmusikdirektor und Opernintendant in Personalunion von 1997 bis 2013 intensiv gepflegt. Die Philharmoniker wissen also sehr genau, wie Wagner „geht“. Aktuell zu erleben im „Lohengrin“, der am Wochenende Premiere feierte.
Soltesz’ Nachfolger Tomas Netopil setzt dabei durchaus eigene Akzente, wählt gute, rasche Tempi, schafft Transparenz im Zusammenklang von Streichern, Holz- und Blechbläsern und koordiniert vor allem Graben und Bühne geradezu perfekt! Schon allein diese orchestrale Brillanz ist ein Highlight dieser Produktion. Im Publikum deshalb für den Dirigenten und seine Philharmoniker völlig zu Recht rauschender Applaus bereits zur Pause nach dem ersten und dem zweiten Akt.
Wenn sich der Vorhang nach dem ultimativen Finale senkt, gehört der Applaus aber auch Tatjana Gürbaca, der Regisseurin dieses „Lohengrin“ und ihrem Team (Bühne: Marc Weeger, Kostüme: Silke Willrett). Lautstarke „Buhs“ gab es vereinzelt auch. Aber weshalb?
Gürbaca gelingt eine überzeugende Interpretation, in der es (auch) um aussichtslosen Machterhalt geht: König Heinrich der Vogler scheitert daran, seinem Volk, den Brabantern, eine Perspektive aufzuzeigen. Da kommt eine Lichtgestalt wie Lohengrin gerade recht, der dem Volk irgendeine bessere Zukunft verheißt. Obwohl Lohengrin in Gürbacas Lesart eigentlich gar keine Lichtgestalt ist. Eher ein „ganz normaler“ Typ, zwar geheimnisumwittert, weil niemand um seine Herkunft weiß. Aber er kümmert sich! Animiert das Volk, voller Überzeugung in den Krieg zu ziehen. Fähnchen werden geschwungen, ein Transparent mit der Aufschrift „Krieg“ wird ausgebreitet, schäumende Stimmung. Alle sind begeistert, die Truppen formieren sich. Zum Krieg aber kommt es nicht. Weil Elsa, die gefährliche Hexe und vermeintliche Mörderin an ihrem Bruder Gottfried, die Lohengrin eigentlich in ihrer „Ehre“ wiederherzustellen gedenkt, sich nicht an das Frageverbot hält. In der Liebesnacht ignoriert sie das „Nie sollst du mich befragen“ – und das Unheil nimmt seinen Lauf.
Gürbacas Bühnenbildner schafft für die riesig breite Essener Opernbühne einen engen Raum: hohe Wände, riesige Treppenstufen. Da wird im eigenen Saft geschmort. Eine Umgebung, in der es Agitatoren und Meinungsmacher leicht haben. König Heinrich (herausragend: Almas Svilpa) wirkt da eher wie ein Ministerialdirektor der Bonner Republik. Und es ist eine Umgebung, die dichte Personenführung zulässt. Ohne großen Gesten! Stattdessen prägen kleinste Nuancen in den Beziehungen der Protagonisten untereinander Gürbacas Lesart. Sie thematisiert das Gegensatzpaar Individuum und Kollektiv und erklärt scheinbar so simpel und doch so kunstvoll die manipulative Beeinflussbarkeit sowohl von Massen als auch einzelner Menschen.
Viel Psychologie ist hier im Spiel. Man muss allerdings genau hinsehen – und die Inszenierung womöglich noch ein zweites Mal hören und sehen. Das lohnt sich, denn es wird vortrefflich gesungen. Da ist, allen voran, der schwedische Gasttenor Daniel Johansson in der Titelrolle mit sehr balsamischer, nie aufdringlicher Stimme – kein heldenhafter Erlöser, eher ein Verführer. Jessica Muirhead gibt eine erst kindlich-naive Elsa, die im 2. und 3. Akt erwachsener wird. Eine plausible Entwicklung dieser Figur, die Muirhead stimmlich wie darstellerisch nachvollzieht. Katrin Kapplusch und Heiko Trinsinger treffen genau den richtigen, fiesen Ton für Ortrud und Telramund, Almas Svilpa ist der hilflose König Heinrich. Ganz prächtig agiert der Chor (Jens Bingert), die Essener Philharmoniker fühlen sich (siehe oben) bei Wagner ohnehin wie ein Fisch im Wasser.
- Weitere Vorstellungen: 9., 11., 22., 28. und 30. 12. 2016; 7. 1., 11. 1., 26. 3., 1. 4. 2017