Wenn die Wildgänse über die Ostsee gen Süden ziehen, beginnt auf Usedom die Musiksaison. Jeden Herbst findet hier das Usedomer Musikfestival statt, das sich der Kultur des Ostseeraums widmet. In diesem Jahr steht Polen im Mittelpunkt.
Der Austausch mit dem Nachbarstaat gehört zur Grundphilosophie des Festivals. Schon vor der Erweiterung des Schengen-Raums, als es auf der Zweiländerinsel noch Passkontrollen und einen über den Strand gespannten Zaun gab, veranstaltete man Konzerte östlich der Grenze. „Es gibt keinen schöneren Ort, deutsch-polnische Begegnungen zu feiern“, erklärt Thomas Hummel, Intendant des Festivals. „In diesem Jahr wollen wir die reiche Musiktradition unserer Nachbarn und die vielfältigen Verflechtungen zwischen beiden Ländern beleuchten.“
Da kommt man natürlich an Polens National-Ikone Chopin nicht vorbei. Der Schauspieler Ulrich Noethen las aus dem Briefwechsel des Komponisten, der sich im fremden Paris vor Sehnsucht nach dem russisch besetzten Vaterland verzehrte. Dazu spielte Hideyo Harada Chopins Klaviermusik zwar technisch brillant, aber einen Hauch zu weichlich und sentimental. Existenzielle Dringlichkeit vernahm man jedoch ein paar Tage später in den geradlinigen, drängenden, auf Effekthascherei verzichtenden Interpretationen der Rostocker Pianistin Janka Simowitsch.
Paul Gulda wiederum präsentierte Chopin-Nostalgie aus der Feder von Felix Blumenfeld. Dessen auf charmante Weise altmodischen Mazurken, die um 1900 entstanden, spielte der Pianist mit lässiger Gemütlichkeit und ironischem Augenzwinkern.
Einer der wichtigsten polnischen Komponisten des 20. Jahrhunderts war Witold Lutosławski, der sich mit heimischer Folklore beschäftigte, um nicht ins Visier der sozialistischen Machthaber zu geraten. Vermeintlich harmlos klingt der Titel seines 1954 uraufgeführten „Konzerts für Orchester“, doch wird das Innenleben des Hörers hier gründlich durchgerüttelt.
Michał Nesterowicz, der straff und energisch das NDR-Orchester dirigierte, brachte die grelle Intensität des Stücks deutlich zur Geltung. Konzertort war die riesige Turbinenhalle des Kraftwerks von Peenemünde, wo die Nationalsozialisten einst an der Entwicklung von Massenvernichtungswaffen arbeiteten. Intendant Hummel bezeichnete die Aufführung einstmals verfolgter Komponisten an diesem Ort als eine „klingende Mahnung“.
Am selben Abend führte Nesterowicz die farbenreich und rhythmisch lebhaft spielenden NDR-Sinfoniker durch die kecke „Burratino“-Ballettmusik von Mieczysław Weinberg. Der polnisch-jüdische Komponist floh nach dem deutschen Überfall auf Polen in die Sowjetunion, wo ihn nur die Fürsprache Schostakowitschs vor stalinistischen Säuberungsaktionen schützte.
Zu jener Zeit war in Polen auch der Jazz aus der Öffentlichkeit verbannt, der dann nach Stalins Tod eine erste Blüte erlebte. Stellvertretend für die heute höchst kreative und vielseitige Jazzszene Polens lud das Usedomer Musikfestival den Kontrabassisten Vitold Rek mit seinem Trio „East West Wind“ ein. Rek wuchs an der Grenze zur heutigen Ukraine auf. In seinen beseelten Melodien – er spielt mit Bogen – zitiert er polnische, jüdische oder russische Folklore.
Derlei Einflüsse vernimmt man auch bei dem russisch-jüdischen Komponisten Jacob Weinberg. Zum Beispiel in den „Hebräischen Melodien“, die auf Usedom von dem armenischen Klarinettisten Narek Arutyunian aufgeführt wurden. Der 22-Jährige ist Wettbewerbssieger der New Yorker Stiftung „Young Concert Artists“, die ihre Finalisten schon seit 20 Jahren zum Usedomer Musikfestival schickt. Bei einem Recital demonstrierte Arutyunian makellose Spiel- und Atemtechnik sowie ein höchst geschmeidiges Legato – bei romantischer Virtuosenliteratur ebenso wie bei Klezmer oder den experimentellen Klängen von Edison Denissow.
„Musik im okkupierten Polen“
Das Zusammenleben verschiedener Völker auf polnischem Boden fand mit dem Einmarsch der Nationalsozialisten sein Ende. Die Details über den damit einhergehenden Kahlschlag im Musikleben östlich der Oder sind hierzulande allerdings wenig bekannt. Diese Lücke schließt die Ausstellung „Musik im okkupierten Polen“, die parallel zum Festival im Museum Peenemünde läuft.
Hier erfährt man, wie die florierende Musikszene Polens unter Hans Frank, dem „Generalgouverneur für die besetzten polnischen Gebiete“, stillgelegt wurde. Der ließ Opernhäuser, Orchester und Konservatorien schließen. Öffentliche Konzerte waren verboten, so dass sich das Musikleben in Privatwohnungen verlagerte.
Fotos, Dokumente und Musikbeispiele verdeutlichen die Situation in den großen Städten, in Ghettos sowie Arbeitslagern, wo Musik nicht zuletzt als Schmieröl der Vernichtungsmaschinerie diente: Lagerorchester suggerierten Normalität; sie sollten das Leitungspersonal unterhalten, aber auch Schreie bei Erschießungen übertönen.
In Ghettos und Lagern wurde auch komponiert. Daran erinnert auf Usedom der Cellist David Geringas. Er eröffnete seinen Meisterkurs auf Schloss Stolpe mit der eleganten, auf Ravel ebenso wie auf den Blues anspielenden Cello-Sonate von Szymon Laks, dem Leiter der Lagerkapelle in Auschwitz.
Zum Abschluss des Festivals am 11. Oktober reist Krzysztof Penderecki an. Polens größter lebender Komponist führt im Swinemünder Kulturhaus und im Kraftwerk Peenemünde mit dem Ensemble „Sinfonia Varsovia“ eigene Werke auf.