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Ensemble; vorne: Engebretson. Foto: © Sarah Jonek

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Klingendes Psychogramm – Leoš Janáčeks „Katja Kabanowa“ am Theater Bielefeld

Vorspann / Teaser

Der Text im Programmheft führt den Begriff der „ecclesiogenen Neurose“ aus der Psychiatrie der 1960er Jahre auf, der eine religiös bedingte psychische Störung bezeichnet. Eine Diagnose, die auf Katja Kabanowa zutrifft? Im Theater Bielefeld, das sich in der Vergangenheit immer und immer wieder für Leoš Janáčeks musiktheatralisches Oeuvre engagiert hat, spürt man dem jetzt nach.

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Kein kleines Städtchen irgendwo an der Wolga, kein Gärtchen mit Zaun, auch keine heimelige Arbeitsstube… Georg und Martin Zlabinger verorten die tödlich endende Geschichte der Katja Kabanowa in einem weitestgehend zeitlos anmutenden Raum, rechts und links begrenzt von hölzernen Planken, einen halben Meter hoch und von vorn nach hinten verlaufend. Als Rückwand der Spielfläche: eine große Öffnung, von halbtransparenten Plastikstreifen verschlossen und von hinten schwach beleuchtet. Zwischendurch senken sich mehrere quadratische Säulen vom Schnürboden auf die Spielfläche herab. Alles in allem eine nüchterne, völlig schmucklose Umgebung. Ideal für das, worum es dem Regieteam Zlabinger geht: um die Fokussierung auf Katjas Seelenleben, auf ihren Umgang mit ihrer frühkindlichen Sozialisation in eine Gesellschaft, die von strengen Normen reglementiert ist. Glaube und religiöse Praxis, die im Wesentlichen eine von Verboten ist, bestimmen ihr Dasein. Ist das heute noch so? Hat das nach wie vor – oder wieder – Relevanz? Wer sich Dokumentationen aus ganz Europa, vor allem aber aus nord- wie südamerikanischen Regionen ansieht, wird sich wundern, wie weit religiös unterfütterter Fundamentalismus und rigide, längst als veraltet angesehene Moralvorstellungen gerade bei jungen Leuten Oberwasser bekommen!

Katja Kabanowa denkt oft an Sünde. Mit Angst und Schrecken. Deshalb ist es eigentlich nur konsequent, dass sie ihrem Leben ein Ende setzt. Denn als mit Tichon verheiratete Frau ist ihre Beziehung, die echte wahre Liebe zu dem jungen Boris völlig unmöglich. Und wo schon der liebe Gott sie dafür nicht physisch straft, muss sie dies selbst tun. Dies der Kulminationspunkt, auf den Regisseur Georg Zlabingen unausweichlich zusteuert.

Seine Bielefelder Inszenierung mit all ihren Handlungssträngen ist ein Paradebeispiel für psychologisch genaueste Personenführung. Jede Bewegung, jede Personenkonstellation ist von Bedeutung und spiegelt alle hier thematisierten Konflikte und problematischen Beziehungen. Herrisch, ja tyrannisch führt Kabanicha, die reiche Kaufmannswitwe, das Regiment, unerbittlich verkörpert von der großartigen Dalia Schaechter. Ihr Sohn Tichon (darstellerisch wie sängerisch superb: Andrei Skliarenko) ist ebenso ein Schwächling wie Boris (großartig: Nenad Čiča), Wanja Kudrjasch (Lorin Wey mit sicher geführtem Tenor) passt als Lehrer mit seinen „modernen“ Ansichten nicht in die reaktionäre Gemeinschaft; Barbara (eine sichere Mezzo-Bank: Marta Wryk) zeigt Katja gegenüber ihre Sympathien, wenngleich sie das bittere Ende nicht verhindern kann. Dikoj, Kuligin, Glascha, Fekluscha – auch diese kleineren Rollen füllt das Bielefelder Ensemble kompetent aus.

Der ultimative Höhepunkt dieser Inszenierung aber ist Heather Engebretson in der Titelpartie (und ihr Rollendebut)! Eine Sopranistin, die sich mit Haut und Haaren in ihre Rolle hineinbegibt, totale Identifikation mit ihr zeigt. Darstellerisch mit reicher und jeden Augenblick lang sprechender Gestik und Mimik, sängerisch einfach umwerfend, ganz gleich, ob sie ein klanggesättigtes Pianissimo oder dramatisch ins Fortissimo ausbrechende Passagen zu singen hat. Eine Katja, die für anhaltenden Gänsehaut-Effekt sorgt. Schon allein deshalb lohnt sich die Reise nach Bielefeld! Dies alles wird sekundiert von den glänzend spielenden Bielefelder Philharmonikern. Kapellmeister Gregor Rot entfacht ebenso machtvolle Tutti-Klänge wie fein gezeichnete intime Farben und Stimmungen – ein klingendes Psychogramm, das diese Katja Kabanowa zu einem echten Gesamtkunstwerk zusammenschweißt. Grandios!

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