Sechzehn ausgewählte Komponisten, eingeteilt in Vierergruppen, sind vom Siemens Arts Program und vom Ensemble Modern ausgesandt worden, vier Metropolen in der Welt vier Wochen lang zu besuchen, musikalisch zu erkunden und die Beobachtungen anschließend in einer Art komponiertem Tagebuch festzuhalten.
Das Ergebnis „Istanbul“ liegt als erstes vor: In der Alten Oper Frankfurt wurden die ersten vier Stadtmusiken von Beat Furrer, Vladimir Tarnopolski, Samir Odeh-Tamimi und Mark Andre vom bestens disponierten Ensemble Modern uraufgeführt. Die anderen drei Megastädte Dubai, Johannesburg und das chinesische Pearl River Delta folgen in den nächsten Monaten.
Das verdienstvolle Unternehmen, in mehreren Jahren gründlich vorbereitet und diskutiert, wirft weniger Fragen nach dem Sinn auf: Wer kann schon in einer so kurzen Zeit Eigenart, Geheimnis und Vielgestaltigkeit einer großen Stadt erfassen? Wichtiger erscheinen die Perspektiven, die ein Projekt wie „into …“ eröffnet: Könnte man nicht eine längere Zeit in einer Stadt oder Region mit und zwischen ihren Menschen leben, um etwas vom Rhythmus des täglichen Lebens, von den Sehnsüchten und Hoffnungen der Menschen zu erfahren? Vielleicht könnte das „into“-Projekt einen Anstoß geben, um über längerfristige Aufenthalte von Musikern, Malern, Dichtern in fremden Regionen nachzudenken, etwa nach dem Vorbild der Villa Massimo. Gerade Istanbul böte sich dafür an, zumal dort das Goethe-Institut, das für das „into“-Programm hilfreiche Vorarbeit leistete, einen großen Erfahrungsschatz beizusteuern vermöchte. Es wird immer wieder über einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union diskutiert, wobei sich die Argumente Pro und Contra vornehmlich aufs Ökonomische oder Militärische (Stützpunkt wider irgendwelche asiatischen „Schurkenstaaten“) konzentrieren.
Entscheidend aber wäre vor allem eine kulturelle Verständigung, das Verstehen einer anderen Kultur, was nicht zu verwechseln ist mit einer Verschmelzung der Kulturkreise. Dabei würde nur ein gesichtsloser Mischmasch entstehen. Es gibt in der Musik inzwischen zahlreiche Beispiele, wie sich ein Diskurs zwischen den Kulturen gestalten könnte. Der Komponist Klaus Huber beispielsweise hat sich schon seit langem mit arabischer Musik befasst, nicht nur theoretisch, sondern auch mit eigenen Kompositionen. Die schöpferische Auseinandersetzung ist sicher der beste Weg, in das Wesen einer zunächst fremden Kultur einzudringen. Dass das Istanbuler Philharmonische Orchester gerade den österreichischen Dirigenten Sascha Goetzel als Musikchef verpflichtet hat, beweist, dass die kulturelle Neugier keine Einbahnstraße sein muss. Das türkische Orchester möchte in Zukunft in der westlichen Orchester-Spitzenliga mitspielen, schließlich wird Istanbul im Jahr 2010 europäische Kulturhauptstadt sein. Sascha Goetzel entwickelt zu diesem Anlass ehrgeizige Programme, in denen auch türkische Komponisten vertreten sind. Auf den geplanten Europa-Tourneen des Orchesters wird man also auch etwas über das zeitgenössische Musikschaffen in der Türkei erfahren.
Auf diesem Hintergrund gewinnt das ambitionierte „into“-Unternehmen, das vom Siemens Arts Program und dem Ensemble Modern gemeinsam getragen wird, eine zusätzliche, über das Nur-Musikalische hinausgehende politisch-gesellschaftliche Dimension. Was beim Frankfurter „into“-Start am meisten beeindruckte, war die Sensibilität, mit der sich die vier Komponisten trotz der kurzen Verweildauer vor Ort ihrem Thema widmeten. Dabei näherten sie sich durchaus sehr unterschiedlich ihrer Aufgabe. Der in Berlin lebende palästinensisch-israelische Samir Odeh-Tamimi kam ohne Erwartungen in die Stadt, von deren Faszination er aber immer wieder von Freunden gehört hatte. Er hat sich vor allem intensiver mit der Musik und den „alltäglichen Klängen“ in der Stadt beschäftigt, wobei er schon vorher von seinem Stück, das er nach dem Stadtviertel, in dem er wohnte, „Changir“ betitelte, eine bestimmte Vorstellung besaß. „Changir“ darf man sich nach den Bekundungen des Komponisten als musikalisches Tagebuch vorstellen, dessen Worte Klangimpressionen sind, einschließlich der singenden und schreienden Muezzin-Klänge. Odeh-Tamimis „Changir“ wirkt trotz eines leicht additiven Charakters sehr konzentriert.
Den in Moskau lebenden Vladimir Tarnopolski beeindruckte bei der Ankunft zunächst die Energie, die diese Stadt abstrahlt. Seine Komposition „Eastanbul“ die ursprünglich „Westanbul“ heißen sollte, setzt diesen Eindruck in treibende rhythmische Energien um, daneben entfalten sich zugleich heterophone Elemente, inspiriert durch den Besuch eines Gottesdienstes in der Chora-Kirche im islamischen Stadtbezirk, wo die Gebetsformeln, zeitlich leicht versetzt, an den verschiedensten Raumstellen aufklangen. Tarnopolski erschien Istanbul auch musikalisch wie ein „brodelnder Kessel von Lava“, und etwas davon prägt auch sein heftig bewegtes Stück: insofern auch ein komponiertes „Tagebuch“.
Auch Beat Furrer empfing für seine „Xenos“-Komposition den entscheidenden Impuls während eines Gebetes in der Sultan-Ahmet-Moschee: eine vom Imam der Moschee vorgetragene arabische Melodie, deren Klanglichkeit ihn faszinierte. Furrer hat dann die Körperlichkeit des ständig wechselnden Stimmsitzes analog in instrumentale Gestalten überführt, Furrer nennt sie „spektrale Filter“, denn jeder Ton der Melodie sei ein anderer Filter, es entstehe eine kontinuierliche Bewegung.Insgesamt wirkt das wie eine leise Tüftelei, vielleicht erreichte aber auch die Wiedergabe des Ensemble Modern unter Alejo Pérez noch nicht die letzte Perfektion. Was keine Kritik bedeuten soll. Es geht nur um die letzten Nuancen. Dass das Ensemble Modern allen vier Kompositionen eine hohe Wiedergabequalität sicherte, versteht sich bei diesen Musikern von selbst.
Der in Berlin lebende französische Komponist Mark Andre hatte sich auf seine eigene Art auf das Istanbuler Abenteuer vorbereitet. Der Begriff „Übergang“ spielt in seinem Schaffen ohnehin eine wichtige Rolle: „Übergang“ in spirituellen, religiösen, existentiellen Sinngebungen. Aus der Geschichte Istanbuls bieten sich solche Übergänge geradezu in Fülle an. Mark Andre, der sein Stück für Ensemble und Live-Elektronik kurzerhand „üg“ nennt, bat darum, ihm die „Blaue Moschee“ für einige Stunden leer zur Verfügung zu stellen. Die Akustik des leeren Raumes wurde elektronisch raffiniert förmlich abgetastet, das so gewonnene Klangmaterial in die „üg“-Komposition live-elektronisch eingespeist. In die Klangspuren des Raumes sprechen Menschen in der Stadt flüsternd ihre Vornamen ein, auch jüdisches Alphabet und Koranstellen werden integriert. Mark Andres Istanbul-Beitrag enthält außer der klanglich fein ausgehörten Musik auch ein großes Humanum, in dem von den Menschen in dieser Stadt und ihrer langen Geschichte erzählt wird.
Die nächsten „into“-Premieren sind: „Johannesburg“ (6. März 2009, Konzerthaus Berlin); „Dubai“ (im Mai in Dubai, 27. Mai 2009, Konzerthaus Berlin); „Pearl River Delta“ (9. Oktober 2009, Konzerthaus Berlin). Alle Konzerte einen Tag später in Frankfurt.