Diese „Salomé“ im Grand Théâtre de Genève ist auf schmerzhafte Weise aufregend wie 1905, als das neutestamentliche Sujet von der Enthauptung Johannes’ des Täufers in der burlesk-zynischen Überschreibung Oscar Wildes mit der sinnlich-expressiven Vertonung von Richard Strauss ein mit Skandal lockendes Erfolgsstück wurde – vom Uraufführungsort Dresden bis zum prüden New York. Das erst gegen Ende des 105-Minuten-Vollsprints in die ultimative Nervenmusik findende Dirigat von Jukka-Pekka Saraste vertrug sich bestens mit dem die Bezüge von Strauss zu den französischen Klangmagiern vor 1900 suchenden Orchestre de la Suisse Romande. Kornél Mundruczós Inszenierung malte eine westliche Zivilisation am Abgrund, erwies sich gerade durch ihre exzessive Übertreibung als gnadenlos stimmig. Und die Russin Olesya Golovneva lieferte bei ihrem Debüt in der Titelpartie ein nervenaufreibendes, souveränes Porträt fraulichen Zerrissenseins in toxischen Strudeln zwischen Missbrauch und Selbstbewusstsein.

Salomé – Photo: © Magali
Koks, Missbrauch, Verfall – Bitterböse Dystopie aus Strauss’ „Salomé“ in Genf
Ein rasanter Abend aus Kalkül, Exzess, schonungslosem Pessimismus und mit Analogien zum jüngsten Zeitgeschehen jenseits des Atlantiks. Zuerst wirkt das umfänglich zelebrierte Komasaufen und Koksen in Monika Korpas Kostümen und Bühnenbild, das die hölzernen Wandpaneelen des Genfer Zuschauerraums fortsetzt, reichlich übertrieben. Schauplatz ist anstelle Judäas um 30 n. Chr. die Lounge in einem Wolkenkratzer mit Ausblick auf eine metropolitane Skyline. Aus den Straßenschluchten weit unten schallt das bedrohliche Stimmengewirr einer Demonstration. Oscar Wildes wilder Prophet Jochanaan platzt im Hoodie mit Cargohose und strähnigen Haaren in die Elite der Superreichen, ausgerechnet als diese das Denken abstellen und nur noch Fun wollen – vor allem die hochattraktive Firstlady Herodias als laszives Biest-Beef im Sandwich zweier Lover. Ein allbereites Hostessen-Rudel mit Spritz- und Schnupfbesteck erlaubt alles, außer dass sich die Männer selbst in der Bar mit hartem Alk versorgen.
Ja, und da sind noch der mit oranger Krawatte unterm blauen Anzug dem frisch angetretenen Mr. President ähnelnde Superboss Herodes mit seinem besten, allerdings leicht spröden Supercallgirl Salomé. Dieses liebt er bis zum echt wahnsinnigen Vergewaltigungstrip beim Tanz der sieben Schleier. Die delikate, ja betörende Orchesterbehandlung führt immer wieder in die Irre, wenn Saraste aus Warnrufen Jochanaans leichte Mißtöne hervorkehrt und zum schönen, wilden Leben der Führungskaste an Richard Strauss’ erotisierenden Farben festhält. Der Hauptmann Narraboth (brillant: Matthew Newlin) mit seiner geschniegelten Arglosigkeit der einzige wirkliche Sympathiefunken, schlitzt sich beide Arme auf und verblutet langsam zum hysterischen Gekreisch des hier eindeutig binär fraulichen Pagen.
Es wird nur allzu deutlich, warum Salomé hier raus will und mit der oppositionellen Jochanaan-Bewegung sympathisiert, aber falsche Schlüsse zieht. Sie will ausgerechnet den Kopf dessen, der sie vor Missbrauch zu schützen versucht und das nicht kann. Kornél Mundruczós „Salomé“ wird immer mehr zum sexuellen Inferno einer nahen Zukunft mit Rechts-, Moral-, Werte- und Empathieverlust. Sein Ausblick lässt – angemessen – alle Genregrenzen von Satire, Dystopie, Karikatur und Allegorie hinter sich.
Die Sequenz zwischen Tanz und Schlussmonolog wird demzufolge zur Revue, in der auch das Publikum die Visionen der ihrer selbst nicht mehr mächtigen und bis zur Besinnungslosigkeit zugedröhnten Figuren zu sehen bekommt. Alles glitzert groß und breit, während sich Salomé mit Blut zwischen den Beinen den Kopf ihres Idols Jochanaan als Entschädigung ihrer freiwilligen und erzwungenen Opfer begehrt.
Der Rest ist Ekel und totale Spaltung. Ein riesiges Haupt schiebt sich zu Salomés Liebesvision und Gedanken über den ihr vom Rebellen vorenthaltenen Kuss nach vorn. An diesem robben und kleben die Luxushostessen wie Maden am Aas. Am Ende führt nichts mehr zusammen: Es bleibt der Kollaps von allem und Aller, gekrönt von beginnender Verwesung. Das Premierenpublikum bejubelte – außer einem ganz zaghaften Buh – die kruden und katastrophalen Krassheiten mit bemerkenswertem Gleichmut.
Ovationen erntete vor allem Olesya Golovneva, die bei ihrem Partiendebüt das desorientierte Opfer, das dekadente Biest, die wildernde Nymphe, den Emotionen-Junkie und das Elendsbündel mit zu Beginn minimal auf die Stimme schlagender Selbstentäußerung gestaltete. Mit Anstrengungen verbunden ist diese Leistung auch, weil Salomé hier keineswegs nur Opfer bleibt, sondern den Drogen- und Vernichtungsstrudel mit Volleinsatz und Eigeninitiative mitgestaltet. Subtil entwickelt Gábor Bretz, bei den Salzburger Festspielen 2018 bereits der Jochanaan neben Asmik Grigorian, ein packendes Porträt zwischen dem Opfer politischer Willkür und wacher Aufmerksamkeit für den Selbstvernichtungsreigen um sich. Der sonst so noble John Daszak zeichnet Herodes mit knapper Mimik und bulliger Brutalität. Bei der Vergewaltigung Salomés wird der Spitzenmann trotz akuter Albträume und rauer Direktiven zum priapischen Raubtier. Tanja Ariane Baumgartner ist in diesem Ambiente als ihre Gelüste direkt auslebende Herodias eine geradlinige Figur, Ena Pongrac als Page ein distinguiert liebendes Nervenbündel mit hysterischen Aussetzern. Nicolai Elsberg gestaltete den ersten Nazarener und ersten Soldat sonor, das sich hier aus der Führungskaste zusammensetzende ‚Judenquintett‘ bereicherte die postdemokratische Soziostudie um Skizzen zum Mitläufertum aus Traditionsbewusstsein. Das Orchestre de la Suisse Romande spielte mit einem elitären Beharren auf Schönheit, dessen hohe Qualität im Overflow aus ‚Sex and Drugs and Oscar Wilde‘ immer wieder aus dem Aufmerksamkeitsradius fiel. Insgesamt überzeugte an dieser Premiere, wie Übertreibung immer wieder in die sinnfällige Spur kam, weil die Wirklichkeit noch viel schlimmer werden könnte.
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