Hauptbild
Das Vertrauen in die Musiker war groß, der Blick in die Partitur kann gleichwohl nicht schaden: Nikolaus Brass bei den Proben in Weingarten. Alle Fotos auf dieser Seite: Charlotte Oswald
Das Vertrauen in die Musiker war groß, der Blick in die Partitur kann gleichwohl nicht schaden: Nikolaus Brass bei den Proben in Weingarten. Alle Fotos auf dieser Seite: Charlotte Oswald
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Komponierte Wege ins Innerste menschlicher Existenz

Untertitel
Die Internationalen Weingartener Musiktage präsentieren den Komponisten Nikolaus Brass
Publikationsdatum
Body

Die Internationalen Weingartener Tage für Neue Musik bestehen seit 1986. Ihre Besonderheit liegt darin, dass sie nicht, wie etwa Donaueschingen oder Witten, einen umfassenden Überblick über die neuesten Kreationen von zwei Dutzend Komponisten bieten, sondern jeweils einen zeitgenössischen Komponisten in drei Festival-Tagen umfassender präsentieren.

Das macht durchaus Sinn: Viele jüngere und sogar ältere Komponisten werden hier und da mit meist nur einem Stück uraufgeführt, eingezwängt oft von bereits renommierten Kollegen. Da lässt sich manchmal nur schwer erkennen, welche Substanz ein noch im Wachsen befindliches Schaffen gewonnen hat. In Weingarten wird das in der Intensivierung besser und schneller erkennbar. Darin liegt der besondere Wert der Weingartener Musiktage. Sie leisten auch eine heute besonders wichtige Vermittlungsarbeit für die Neue Musik. Das wissen auch die eingeladenen Komponisten zunehmend zu schätzen.

Wer zählt die Komponistennamen, die schon nach Weingarten kamen, sich und ihre Musik einem aufgeschlossenen Publikum vorzustellen: John Cage, Helmut Lachenmann, Dieter Schnebel, Karlheinz Stockhausen, Klaus und Nikolaus A. Huber, Wolfgang Rihm, Mauricio Kagel, György Kurtág – um nur einige von zwanzig in zwei Jahrzehnten zu erwähnen. Natürlich benötigten manche von ihnen nicht unbedingt „Weingarten“, um ihre Karriere zu befördern. Aber die Engländerin Rebecca Saunders, nur als Beispiel, präsentierte sich in Weingarten vielleicht zum ersten Mal so eindringlich und umfassend, dass selbst Fachleute über die überraschende Fülle und den Facettenreichtum eines Werkes staunten.

Der Einundzwanzigste, den die unermüdliche Rita Jans als Organisatorin und spiritus rector der Musiktage in die kleine Stadt mit der riesigen, die Silhouette des Ortes überragenden Klosterkirche lockte, kam aus der Nachbarschaft: Der 1949 in Lindau/Bodensee geborene, heute in München lebende Nikolaus Brass gestaltete vier Konzertprogramme mit eigenen Kompositionen, sieben davon waren Uraufführungen. Brass ist von Haus aus Mediziner, ediert auch heute noch eine medizinische Fachzeitschrift. Dieser berufliche Hintergrund prägt auch das musikalische Schaffen des Komponisten. Brass denkt viel über die menschliche Existenz nach: deren Ausgespanntheit in der Zeit, deren Fähigkeit des Erinnerns und Vergessens, dem ständigen Kreisen von Verlieren und Wiederfinden.

Diese existentiellen Spannungen und Bewegungen werden vom Komponisten Brass mit immer noch wachsender Intensität und Imagination in Musik überführt. Wie ausgreifend und dabei zugleich konzentriert in die Tiefe drängend das Komponieren des Nikolaus Brass sich darstellt, das war in Weingarten in der hier üblichen Konzentration auf einen einzigen Komponisten eindringlich erfahrbar. „Zeit im Grund“ heißt sein neuestes Werk für zwei Klarinetten und Streicher: In wunderbarer innerer Ruhe werden „musikalische Bausteine“ ausgebreitet, gewinnen allmählich klangliche Farbe und rhythmische Strukturen. Beate Zelinsky und David Smeyers als Solisten gelang mit dem Münchner Kammerorchester unter Nassir Heidarian eine mustergültige Interpretation.

Ebenso perfekt agierte das Orchester bei dem Werk „Von wachsender Gegenwart“ für 18 solistische Streicher. Brass verweist hierbei auf ein Zitat des Musikwissenschaftlers Carl Dahlhaus aus seinem Essay über „Beethoven und seine Zeit“. Dahlhaus: „Die musikalische Zeit des ,Rhythmus im Großen‘ ist eine mit den Dimensionen des Korrespondenzprinzips wachsende Gegenwart.“ Brass hat seine Komposition für Streichorchester „ganz bewusst im Bezug auf die gewaltige Wirkung, die das radikal freie und grenzüberschreitende Spätwerk Beethovens auf das musikalische Denken und Empfinden heute noch ausübt ‚Von wachsender Gegenwart‘ genannt“. Brass überführt die Spannungen im „Korrespondenzprinzip“ in ein gleichsam schwebendes „Gravitationsfeld“, das in der Ausgespanntheit der Ausdruckselemente wie ein stehendes „Klang-Bild“ wirkt. Dass in diesem „Klang-Bild“ gleichwohl Linien, Nervenstränge, ja Prozesshaftes weiterwirken, also eine gleichsam verdeckte Zeitstruktur, das trat in der Darstellung Nassir Heidarians mit dem Münchner Kammerorchester plastisch hervor.

Das Auritus Quartett (Musiker aus dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks) trat mit einer medienzeitlichen Neuerung aufs Podium: Statt der üblichen Noten luden sie sich mittels Antippen einer Fußtaste die jeweilige Partiturseite auf den Bildschirm. Das lästige Umblättern entfiel. Alles weitere allerdings musste nach wie vor traditionell ausgeführt werden. Im vom Auritus-Quartett uraufgeführten „IV. Streichquartett“ ähneln die kompositorischen Strukturen, ihre Verläufe und Gestik den Prozessen in der Natur: Wachsen und Absterben. Es ist immer wieder faszinierend, mit welcher Sensibilität, Phantasie und Souveränität Nikolaus Brass die Phänomene seiner Beobachtungen in autonome Klangregionen versetzt. Im Streichtrio von 1981/83 und im Dritten Streichquartett (2004), die das Auritus-Programm komplettierten, werden die Prozesse des „Klingens und Verklingens“ (Zitat Nikolaus Brass) schon eindringlich vorformuliert. Man gewann den Eindruck, dass der Komponist seine Imaginationen für diese instrumentalen Formationen noch entscheidend weiterführen könnte. Den Quartettkompositionen von Luigi Nono, Helmut Lachenmann, Wolfgang Rihm, Bryan Ferneyhough stehen als Beispiele eines differenzierten kompositorischen Bewusstseins als „Modelle“ auch Nikolaus Brass’ Arbeiten zur Seite.
Außer dem IV. Streichquartett und dem „Zeit im Grund“-Stück hatte Nikolaus Brass auch einige kleinere Uraufführungen mit nach Weingarten gebracht: „Salut“ für Trompete solo, „Lautschrift/Texte, die Lage besprechen“ für einen Schlagzeuger, „Adieu“ für Posaune und „songlines V“ für Violoncello, die von Markus Schwind (Trompete), Andrew Digby (Posaune) und Erik Borgir (Violoncello) gespielt wurden. Die „songlines I“ für Violine solo waren im letzten Konzert zu hören, von der Geigerin Mursel Cantoreggi mit wunderbarem Klangreichtum und gestenreicher Impulsivität dargestellt.

Schon bevor auch andere Festivals für Neue Musik das Thema „Vermittlung“ entdeckten, wurde in Weingarten an den musikalischen Nachwuchs gedacht. Die jeweiligen Komponisten erarbeiteten mit jungen Instrumentalisten eigene Werke, die Ergebnisse wurden dann in einem gesonderten Konzert der interessierten Öffentlichkeit vorgestellt. In schöner Erinnerung ist noch eine Lektion, die György Kurtág jungen Klavierschülerinnen erteilte. Er demonstrierte ihnen, wie man einen Ton mit „Energie“ auflädt, was etwas anderes ist, als nur mit „Kraft“ zu agieren. Der Unterweisung war zuvor ein leises, aber vernehmbares Aufstöhnen des Komponisten beim Vortrag eines seiner Stücke durch eine junge Elevin vorangegangen. Wenn die jungen Klavierschüler Kurtágs Lektion verstanden haben, müssten sie heute ziemlich gut Klavierspielen können. Nikolaus Brass hatte es diesmal mit Studierenden des Vorarlberger Landeskonservatoriums einfacher. Sie erwiesen sich als bestens ausgebildete und trainierte Instrumentalisten, so dass sie sowohl die „seven thoughts“ für Piccoloflöte, Akkordeon und Schlagzeug von 2001 als auch die „last verses“ für ein sechsköpfiges Ensemble mit bemerkenswerter Perfektion und sogar interpretatorischer Souveränität zu realisieren vermochten. In den „Letzten Versen“ bezieht sich der Komponist nach seinen eigenen Worte auf die Tradition des fernöstlichen Sterbegedichts: Vom Zen-Meister wird erwartet, im Augenblick des Sterbens sich von seinem Leben mit einem Gedicht zu verabschieden. Brass reiht dazu zwölf musikalische Momente zu Strophen, in denen Identisches in ständig neuen „Anordnungen“ erscheint.

Nikolaus Brass jedenfalls zeigte sich höchst beeindruckt. Als Moderator seiner eigenen Werke fehlt es ihm nicht an Formulierungskraft. Er ist auch als „Schreiber“ und Analytiker seiner Kompositionen ein „Mann des bildhaften Wortes“. Die neue musikzeitung freut sich, dass sie Nikolaus Brass von der ersten Ausgabe des kommenden Jahres an als regelmäßigen Kolumnisten gewinnen konnte. Es ist an der Zeit, die Diskussionen über Kultur nicht länger Quizmastern, schlechten Jungs oder so genannten Literaturpäpsten zu überlassen.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!