Es war ein außergewöhnlicher Konzertabend. Selbst für das topbesetzte Lucerne Festival. Simon Rattle, hier sonst nur mit seinen „Berlinern“ zu hören, stand am Pult des Orchestra und des erstmals weltweit zusammengerufenen Chors der Lucerne Festival Academy, jenes von Pierre Boulez 2004 im Rahmen der Festspiele gegründeten „Ausbildungscampus“ für Neue Musik. In diesem Jahr wollte sich Pierre Boulez als Dirigent von Simon Rattle vertreten wissen. Und gemeinsam beschlossen sie, Berios Jahrhundertwerk auf das „Studien“-programm der Academy zu setzen.
So erlebte man einen Simon Rattle, der zeigte, dass sich auch mit jungen Ad-hoc-Ensembles solcher Qualität Spitzenleistungen erzielen lasssen. In der Arbeit mit dem Chor stand ihm dabei James Wood ebenbürtig zur Seite. So kam es zum eigentlichen Ereignis dieses Konzerts: „Coro“, das einstündige und wegen seiner komplexen Besetzung und kompositorischen Machart selten zu hörende Werk von Luciano Berio (1925–2003), entfaltete seine überwältigende Aussagekraft in Klang-Gebilden, die von schmerzhaft verstörender Wucht bis zu Anrührend-Zartem reichen. Der förmlich nicht enden wollende Applaus ließ spüren, dass die Zuhörer nicht nur die glanzvolle Aufführung feierten, sondern sich ebenso von der Botschaft des Werks betroffen zeigten.
Doch zunächst gelangte im ersten Konzertteil die bereits siebte Roche Commissions innerhalb des Lucerne Festivals zur Uraufführung. Das Pharmaunternehmen F. Hoffmann-La Roche AG (mit Hauptsitz in Basel) führt mit seiner Förderung zeitgenössischer Musik und Kunst jenes Engagement fort, das sich im Wirken von Paul Sacher und Maja Sacher-Hoffmann internationale Anerkennung erworben hat. Mit „Le Silence des Sirènes“ hat Unsuk Chin (geb. 1961), „composer in residence“ des diesjährigen Festivals, ein Monodram für Sopran und Orches-ter vorgelegt, dessen gleisnerisch glitzernder Solopart in der treffsicheren Kehle von Barbara Hannigan auch die mythischen Sirenen vor Neid hätte erblassen lassen.
Die Komponistin hatte sich dazu zwei ganz verschiedene Texte herangeholt: aus dem 12. Gesang der Odyssee die einschlägigen acht Verse (184–191) und aus dem 11. Kapitel des Ulysses die 64 frei gefügten Einganszeilen, mit denen James Joyce seinen Leser auf die Szenen in der Osmond-Bar einstimmt. Der irrlichternde, hochvirtuose Vokalpart, vom Orchesterklang ins schneidend Überhelle, Gleißende versetzt, zeigt sich von den Schlüssel- und Reizwörtern des Texts inspiriert – „Bronze bei Gold ..., stahlklingend..., golden getürmtes Haar ...“ –, obwohl die semantische Dimension des Textes bei Unsuk Chin letzlich im Hintergrund ihres kompositorischen Interesses steht. Ihre „Wortmusik“ entzündet sich ja primär an den klanglautlichen Aspekten des Sprechens. Offensichtlich hatten aber weder die Komponistin noch die Sängerin vor, mit ihrem Gesang an das „Herz des Odysseus“ (Vers 193) zu rühren. Hierin blieben ihre Sirenen tatsächlich schweigend. Trotzdem großer Beifall für alle Beteiligten. In den „Gesprächen über Musik“, wenige Jahre nach der ersten Aufführung von „Coro“ bei den Donaueschinger Musiktagen 1976 (Chor und Symphonieorchester des Westdeutschen Rundfunks Köln) publiziert, umschreibt Luciano Berio seine Komposition als „mein Jerusalem, ... als eine Stadt, deren herrliche weiße Steine im Laufe der Jahrhunderte verschiedenen Zwecken gedient haben, sich aber in neuen Gebäuden wieder verwendet finden, mit neuen Funktionen, für andere Religionen und mit veränderten Administrationen, ...“ (Intervista sulla musica, 1981, mit Rosanna Dalmonte, S. 73). Auch in einer anderen Äußerung greift Berio die Metapher einer „Stadt“ nochmals auf, um die ineinander greifenden Ebenen des Werks zu veranschaulichen. Es handle sich bei „Coro“ um eine Art Anthologie („antologia“) unterschiedlicher Weisen („modi“) des „In-Musik-Setzens“ („mettere in musica“). Mit anderen Worten: Berio, eben fünfzig geworden, hat in diesem Werk gleichsam die Summe seines bisherigen Komponierens gezogen.
Tatsächlich reicht die Skala von seinen Erfahrungen mit der Folklore verschiedener Kontinente bis zu strenger Chorpolyphonie, vom solistischen Klavierklang bis zum Cluster, von Heterophonien und raffinierten rhythmisch-melodischen Veränderungs-Techniken bis zu dem alles grundierenden harmonischen Konzept („base armonica“). In einer einmaligen Besetzung sind die 40 Sänger und 44 Instrumentalisten auf dem Podium untereinander plaziert, sodass es neben solistischen Einwürfen auch zu Abschnitten von höchster vokal-instrumentaler Durchdringung kommt. In einer weit gezogenen Runde von Volkspoesie, in der von Freud und Leid, Liebe und Tod die Rede ist, bildet ein Text von Pablo Neruda die verbale Achse des Werks, entnommen der Gedichtsammlung „Aufenthalt auf Erden“ (1925–31).
Die Beziehung von Text und Musik bildet ein Angelpunkt der kompositorischen Poetik von Luciano Berio. Bei all seiner analytischen Passion für die Lautwerdung des Worts war er im Gegensatz zu manchen seiner zeitgenössischen Kollegen überzeugt, das vom Wort Gemeinte („il significante“) musikalisch derart umsetzen zu können, dass der Text nicht einfach nachgebildet, sondern die semantische Kapazität der Sprache durch Musik erweitert wird (Intervista, S. 129 f.). Einen zwingenderen Beleg als die „Musikalisierung“ der ersten Zeile der Verse von Neruda, von der die ganze Komposition durch-formt und umklammert wird, ließe sich wohl kaum beibringen.
„Kommt und seht das Blut auf den Straßen“ („Venid a ver la sangre por las calles“) – das musikalisch-semantische Spektrum erstreckt sich von der Blutspur, die von der Menschheit gestern und heute auf der Suche nach der vermeintlichen Wahrheit hinterlassen wird, bis hin zur Geste eines säkularisierten Requiems, mit dem des großen Dichters gedacht wird. Mit einem Klagelied beginnt das Werk („Today is mine“), von einem verlöschenden Planctus wird es beschlossen.
Hans Jörg Jans
Scardanelli-Zyklus: ein Himmel über Hölderlin
Die Moderne durchzieht das Festival mit mehr als einem roten Faden, etwa bei den Moderne-Formaten mit Johannes Maria Staud, Unsuk Chin und Heinz Holliger, bei den Konzerten des Lucerne Festival Academy Orchestra oder auch beim neuen Format „Young“, wo die Teilnehmer der Akademie selbst als Veranstalter für das Festival wirken. Das Besondere an der Neuen Musik in Luzern erschöpft sich aber nicht darin, dass sie längst essenziell fürs Festival geworden ist. Ihr wächst quasi en passant auch das Repräsentative zu, das die internationalen Orchester und Namen nach Luzern bringen. Das ist nicht nur ein angenehmer Nebeneffekt, sondern ein zentraler Punkt: Neue Musik geht raus aus der Black Box, raus aus der Turn- und Mehrzweckhalle, rauf auf’s Podium und ins Scheinwerferlicht der Hochkultur.
Doch nicht nur die Scheinwerfer und die Aufmerksamkeit der Medien sind wichtig für die zeitgenössische Musik. Wichtig sind auch die Produktionsbedingungen, wie sie ein großes Festival wie das Luzerner bietet. Das konnte man insbesondere bei der ersten Gesamtaufführung von Heinz Holligers Scardanelli-Zyklus erleben. In der außergewöhnlichen Akustik des Salle Blanche des von Jean Nouvel erbauten KKL wird alles hörbar, was Holliger in diesen Zyklus hineingelegt hat: Jeder Chorklang vom Hauch bis zur vielstimmigen Akkordschichtung, jeder Flötenton hatte eine präzise Gestalt, eine geradezu räumliche Anwesenheit. Dinge, die sonst oft in der nicht vorhandenen Akustik von Mehrzwecksälen verpuffen. Diese akustisch-technischen Bedingungen allein sind schon außergewöhnlich und helfen mit dabei, auch eine scheinbar schwierige Musik in faszinierenden und durchhörbaren Klang-„Ansichten“ zu präsentieren.
Insgesamt 16 Jahre hat Holliger am 23-teiligen Scardanelli-Zyklus gearbeitet – 1975 begann er mit den „Jahreszeiten, dreimal vier Lieder für Chor a cappella“ –, es folgten als Kommentare, Spiegelungen und Musik über Musik die „Übungen zu Scardanelli“. Die Uraufführung unter Holligers Leitung fand 1985 in Donaueschingen statt, das Konzert jetzt in Luzern mit dem erst 1991 abgeschlossenen „Ostinato funebre“ war die erste Begegnung mit dem kompletten Hauptwerk Holligers, in dessen Zentrum die Jahreszeiten-Gedichte von Friedrich Hölderlin stehen, die der Dichter im Tübinger Turm mit dem Namen Scardanelli unterzeichnete.
Der Hölderlin-Herausgeber D.E. Sattler (Bremer Ausgabe) hatte die Aufgabe übernommen, vor dem Konzert über den Dichter im Tübinger Turm zu sprechen: Über Friedrich Hölderlins schicksalhafte Reise durch die Schweiz im Jahr 1802, während der – weit entfernt in Frankfurt am Main – seine große Liebe Susette Gontard, seine „Diotima“, am 22. Juni 1802 an den Röteln verstarb.
Sattler stellte Bezüge zwischen Werk und Biografie her und sprach Jahreszeiten-Gedichte, über die Holliger, so Sattler, ein „Firmament aus Musik“ gespannt habe, den Himmel über Hölderlin. Der Lettische Rundfunkchor und das Academy Orchestra des Festivals spielten unter der präzisen, im besten Sinne antiromantischen Leitung des Komponisten den kolossalen Zyklus ohne Pause für sich oder die Zuhörer. Mit der Wahl des Chors hatten Holliger und Moderne-Dramaturg Mark Sattler eine glückliche Hand bewiesen: Der Lettische Rundfunkchor war der unangefochtene Hauptprotagonist des Vormittags, adäquat begleitet von den jungen Akademisten, die sich ja erst vor wenigen Wochen als Ensemble zusammengefunden hatten und schon zu Produzenten einer echten Sternstunde wurden. Der Flöte kommt im Scardanelli-Zyklus eine besondere Bedeutung zu: Hölderlin soll das Instrument gut beherrscht haben, und Holliger würdigt mit zwei Solopartien, die Flötist Felix Renggli virtuos ausgestaltete, diese enge Verbundenheit des Dichters mit dem Blasinstrument. Holliger als Dirigent seines Stücks war nicht nur Takt-, sondern vor allem auch Sinngeber, nebenbei auch Scardanelli-Deklamator.
Mit insgesamt nur drei seiner Werke war der Schweizer Komponist Heinz Holliger an diesem Wochenende vertreten, aber mit welchen: Im Andenken an seine Anfang des Jahres verstorbene Frau, die Harfenistin Ursula Holliger, schrieb er unter dem Titel „Increschantüm“ sechs Lieder für Sopran und Streichquartett. Im Zentrum die Verse der rätoromanischen Autorin Luisa Famos, darunter „Der Flügel des Todes hat mich berührt im Juni an einem Montagnachmittag …“ In der Luzerner Lukaskirche gelangen dem Zehetmair Quartett und der Sopranistin Anu Komsi eine eindringliche Uraufführung. Zum Konzert unter dem Titel „In Memoriam Ursula Holliger“ gehörte auch das Debussy Streichquartett g-Moll und Holligers zweites – Elliott Carter gewidmetes – Streichquartett aus dem Jahr 2007.
Andreas Kolb