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Harrison Birtwistles „Earth Dances“ als begehbare Installation. Foto: Tim Wegner
Harrison Birtwistles „Earth Dances“ als begehbare Installation. Foto: Tim Wegner
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Kontinentaldrift der Musik

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Die „Cresc...“-Biennale für aktuelle Musik als Festival mit interdisziplinärem Impetus
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Zwischen einem Ich und einem Wir gibt es reichlich Raum für Differenzen und Widersprüche. Das Kurzgedicht „me we“, das Muhammad Ali zugeschrieben wird (und das auch „me – whee!“ gelautet haben könnte) und für das der fragwürdige Anspruch erhoben wird, das kürzeste bis dato verfasste Gedicht überhaupt zu sein, ist vielfältig interpretierbar. Mit seiner semantischen Dehnbarkeit eignet es sich wunderbar zum Motto für ein Festival zeitgenössischer Musik, wo es die Aufmerksamkeit auf rituelle und soziale Qualitäten lenken kann.

Und schon sind wir mitten in einer weglosen Komplexität zwischen Motto, Inhalt und Interpretation: Geht es um Komponisten-Ich und Interpreten-Wir, um Solisten-Ich und Orchester-Wir? Geht es um verschiedene Auffassungen und Definitionen von Individuum und Kollektiv, um den sozialen Sinn von Musik in unterschiedlichen Gesellschaften? – Am bes­ten macht man sich auf Facetten von allem gefasst.

Die Cresc-Biennale im Rhein-Main-Gebiet fand im Februar pandemisch bedingt mit einjähriger Verspätung statt, verteilt auf fünf Veranstaltungsorte und sechs Abende. Neben dem Ensemble Modern und Musikern der Ensemble Modern Akademie beschäftigte sie das Sinfonieorchester und die Bigband des Hessischen Rundfunks sowie eine profilierte Reihe von Solist*innen.

Den Eröffnungsabend gab das hr-Sinfonieorchester mit Harrison Birtwistles 1986 uraufgeführter Orchester-Komposition „Earth Dances“ unter der Leitung von Stefan Asbury. Das Programmheft rückte es in eine Nähe zu Strawinskys „Sacre du printemps“ und stellte damit die Frage: Wer tanzt? Bei Strawinsky zelebriert eine archaische Gemeinschaft ein Opferritual, bei Birtwistle tanzt scheinbar die Erde selbst. Asbury inszenierte das Stück mit dem von Mitgliedern des Ensemble Modern verstärk­ten hr-Sinfonieorchester als wuchtig objektives Klangereignis, in dem sich massive Blöcke bewegen, angetrieben von melodischen Motiven aus einer Art klingendem Untergrund heraus. In seiner dräuenden Langsamkeit erinnert diese Interpretation an eine andere bedeutende Errungenschaft des 20. Jahrhunderts, Alfred Wegeners Theorie der Kontinentaldrift. Sie sieht die Oberfläche unseres Planeten in einem tektonisch langsamen Tanz, dessen Auswirkungen Menschen („we“) ausgeliefert sind.

Auf der Erde gibt es keine Position außerhalb der Tektonik, im Konzertsaal scheinbar schon. Die Position des Publikums ist traditionell so gedacht, dass es in die Bewegung nicht involviert ist, ihr nur beiwohnt. Eine nach oder vor dem Live-Konzert begehbare Klang- und Lichtinstallation von Birtwistles Werk, eingerichtet von Norbert Ommer und Klaus Grünberg, veränderte dieses Konzept. Sie platzierte das Auditorium mitten im Orchester und bot frei wählbare Hör-Positionen. So erfuhr das Publikum etwas über Energie und Vielfalt in den Bewegungen der Klangblöcke und konnte sich an der harmlosen Illusion freuen, den Tanz der Erde mitzutanzen. Bis zum nächsten Erdbeben.

Die Installation verwendet als Material Asburys Interpretation mit dem hr-Orchester; ihre  Hermetik atmet den aktuellen Zeitgeist. Harrison Birtwistle übrigens lebte noch zum ursprünglich geplanten Festival-Termin. Seit seinem Tod im April 2022 hat sich der Westen Islands schon wieder etliche Zentimeter vom Osten der Insel entfernt und die Ebene bei Þingvellir vergrößert.

Aber warum jetzt Island? Der zweite Festival-Abend befasste sich unter der Leitung von Daníel Bjarnason mit Musik von dieser Insel und, unter dem Aspekt des Mottos, vor allem mit der Frage einer musikalischen Darstellbarkeit von Naturerleben und dem Spannungsverhältnis zwischen Solist und Orches­ter. Solist Martin Grubinger lieferte in Bjarnasons Schlagzeugkonzert eine technisch und physisch über die Maßen anspruchsvolle Perkussions-Arbeit, die das Verhältnis zwischen ihm und dem Orchester als permanente Heraus- und Überforderung gestaltet. Das Schlagzeugkonzert hat (noch) keinen offiziellen Titel, Bjarnason und Grubinger scheinen zurzeit zu „Inferno“ zu tendieren, in das der Solopart den Solisten versetzt.

Von den musikhistorisch gar nicht seltenen Kompositionen, die das Fes­tival-Motto nach einer politischen Seite hin interpretieren, fehlte nur Louis Andriessens anarchosyndikalistisches „Workers Union“ (1975) nicht. Musiker*innen der Internationalen Ensemble Modern Akademie trugen weniger prägnante Stücke des 21. Jahrhunderts bei. Die wohldurchdachte, anregende „Night Shift“ der australischen Komponistin und ehemaligen Oboistin des Ensemble Modern Cathy Milliken entmystifizierte die Musik der Gegenwart mit musikalischen, sozialen, aber auch gastronomischen Strategien. Und zwei Konzerte zum Abschlussabend gingen der zunehmend virulenten Frage nach der Relevanz von Improvisation bei der Gestaltung eines musikalischen „MeWe“ nach.

Improvisation, eine musikalische Grundidee des Jazz, ist eng verbunden mit dem Konzept musikalischer Spontaneität. Der große Zeremonienmeister einer Kollektivität, die mit jeglichem Individualismus ein nicht-widersprüchliches Verhältnis eingeht, ist seit je Herman Poole Blount, der sich seit 1952 Sun Ra nannte und zum Wegbereiter des Free Jazz wurde.

Das Liberation Orchestra of Inverted Tradition mit senegalesischen Musikern und Mitgliedern des Ensemble Modern entwickelte projekthaft Ansätze einer Amalgamierung rhythmisch pointierter westafrikanischer Musik mit Spielformen zeitgenössischer westlicher Musik. Das erschien auf der Bühne wie ein anfangs eher schüchterner Fragen-Komplex zu einer zunehmend sich selbst behauptenden idiomatischen und energetischen Neuausrichtung – einem Weg, auf dem noch viele Schritte zu gehen sind. Die Bigband des Hessischen Rundfunks, ihrem Selbstverständnis nach näher an afrodiasporischer Rhythmik angesiedelt als das Ensemble Modern, präsentierte die Vokalistin Sofia Jernberg, deren erstaunliches Artikulationsspektrum von intensivem Jazz-Gesang bis hin zu Instrumental eingesetzten averbalen Vokalisen in kristallinen Diskanthöhen reicht. Hier kam unter der Leitung und in den Arrangements Samuel Jón Samúelssons die kompositorische und rituelle Qualität der Arbeit Sun Ras zunächst eindrucksvoll zur Geltung, dann aber zunehmend unter die Räder klanglicher und metrischer Bigband-Routine. Aber das macht nichts. In dem umfassend interdisziplinären Impetus des Festivals liegt ein enormes Potential für Neugestaltungen der Spannung zwischen Me und We.

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