Zu den wichtigsten Aufgaben des im Jahre 2000 gegründeten Festivals Young Euro Classic gehört es, den Dialog der Kulturen zu fördern. Angesichts der Situation in der Ukraine bildete in diesem Jahr Osteuropa einen Schwerpunkt. Als die ukrainische Regierung nicht mehr die Reisekosten für das Symphonieorchester der Tschaikowsky-Musikakademie Kiew übernehmen wollte, startete die Festivalleitung spontan eine Crowdfunding-Kampagne, die den jungen Musikern und Musikerinnen die Anreise ermöglichte.
Schon bei ihren ersten beiden Gastspielen hatten sie Musik aus ihrer Heimat mitgebracht. Jetzt spielten sie neben Peter Tschaikowskys zweiter Symphonie, der „Ukrainischen“, hingebungsvoll die Symphonie „Stagnation“ (2012) von Andrij Merchel und das zweite Violinkonzert (2006) von Jewgen Stankowitsch, beides in deutscher Erstaufführung. Ebenso wichtig wie die Begegnung mit diesen bei uns unbekannten Werken war die Tatsache, dass Studenten aus allen Teilen der gegenwärtig zerspaltenen Ukraine mitspielten, aus dem west-ukrainischen Lemberg ebenso wie aus dem russophilen Osten des Landes. Pate des Abends war Norbert Röttgen, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages.
Steffen Seibert verzichtete bei seinem Grußwort zum Auftritt der Nationalen Jugendphilharmonie der Türkei auf politische Kommentare zur Syrien- oder Kurdenfrage. Direkt sprach Merkels Kommunikationschef dagegen die deutsch-türkische Komponistin Sinem Altan an, deren neues Werk er mit Spannung erwarte. Tatsächlich vermittelt die in Ankara geborene und in Berlin aufgewachsene Komponistin schon lange zwischen beiden Ländern (siehe auch das Porträt in der Juli/August-Ausgabe der nmz, Seite 30). In ihren Werken wie auch ihrem Ensemble „Olivinn“ verknüpft sie Elemente der europäischen Klassik mit türkischer Volksmusik und Jazz. Solche Verbindungen gab es auch in Sinem Altans neuem Orchesterstück „Hafriyat–Earthwork“, das unter der souveränen Leitung Cem Mansurs zur Uraufführung kam.
Perkussive Ostinati des dunklen Blechs bildeten den Anfang. Was zunächst an Strawinskys „Sacre“ erinnerte, gewann in Melos und Rhythmus allmählich türkisches Kolorit, bis das massive Orchestertutti plötzlich einer einstimmigen orientalischen Bläsermelodie wich. Diese wurde von dicken Blechbläserschwaden brutal zerquetscht, lebte aber in einem vielstimmigen Orchestergeflecht weiter. Die Komponistin beschrieb dies so: „Zum Ende hin scheint die ornamentale Einstimmigkeit über die vielfältigen kleinteiligen Figuren sich durchzusetzen, macht noch mehr Krach und schreit in die Höhe.“ In dem orchestralen Schrei, mit dem das wirkungsvoll instrumentierte Stück endete, deuteten sich dann doch aktuelle Konflikte an, die der Regierungssprecher ausgespart hatte. Dazu Sinem Altan: „Dieser Schrei verkörpert einerseits die Kraft, die die Natur dem Menschen schenkt. Andererseits kann er aber auch ihr Hilferuf an die Menschen sein.“ Für das nur sieben Minuten dauernde Werk erhielt die dreißigjährige Künstlerin an diesem Abend ausgiebigen Beifall und schließlich den vom Regierenden Bürgermeister der Stadt Berlin vergebenen Europäischen Komponistenpreis.
Schocktherapie mit Avet Terterian
Junge Musiker aus der Ukraine, Polen, Georgien, Belarus, Aserbaidschan und Armenien bilden den Klangkörper mit dem ungewöhnlichen Namen „I, Culture Orchestra“, gegründet 2011 zur Zeit der polnischen EU-Ratspräsidentschaft und seitdem vom polnischen Adam Mickiewicz-Institut getragen. Der erste Auftritt bei Young Euro Classic erhielt durch seinen künstlerischen Leiter, den aus Kiew stammenden Dirigenten Kirill Karabits, und den 1984 in der Ostukraine geborenen Pianisten Alexander Gavrylyuk einen starken ukrainischen Akzent. Zu Beginn erklang allerdings die dritte Symphonie des Armeniers Avet Terterian, die sich unter Verzicht auf Melodik, Harmonik und Rhythmik elementaren Klangereignissen widmete. Auf ein lange donnerndes Paukensolo antworteten zwei Posaunen, deren zarte Glissandi faszinierende Obertöne produzierten. Wie in einer Schocktherapie wich der Klang zweier armenischer Oboen (Zurnen) einem Lärmausbruch von sieben Perkussionisten, bevor das Werk leise endete. Diese seltsam faszinierende Musik, die ein anderes Zeitgefühl voraussetzt, hat der Komponist 1975 zum Tod seines geliebten Bruders geschrieben.
Alexander Gavrylyuk ist schon dreizehnjährig mit seiner Familie nach Australien ausgewandert, wo er bis 2006 lebte. 2005 war ihm mit dem ersten Preis beim Artur-Rubinstein-Wettbewerb in Tel Aviv der internationale Durchbruch gelungen. Überraschend kammermusikalisch ging er nun Rachmaninows Rhapsodie über ein Thema von Paganini an. Gavrylyuk versenkte sich geradezu in den Flügel und wählte auffallend oft eine piano- und pianissimo-Dynamik, ohne durch solche Reduktion nur ein Gran an Virtuosität zu verlieren. Diesem Kabinettstück des Klavierspiels folgte als Zugabe eine atemberaubende Wiedergabe der Liszt-Paraphrase von Mendelssohns Hochzeitsmarsch.
Ebenfalls zum ersten Mal gastierte das vor fünf Jahren gegründete Romanian Sinfonietta Orchestra, auch durch das Alter der Mitwirkenden (16 bis 20 Jahre) eines der jüngsten Orchester bei Young Euro Classic. Umso mehr überraschte das hohe Niveau, auf dem hier unter Leitung von Horia Andreescu musiziert wurde. Da die jungen Rumänen ihren ersten Auslands-Auftritt ausgerechnet am Geburtstag ihres Nationalkomponisten George Enescu absolvierten, begannen sie mit dessen idyllischer Rumänischer Rhapsodie Nr. 2.
Nach einer kraftvoll entschlackten Wiedergabe von Tschaikowskys b-moll-Klavierkonzert mit dem Solisten Daniel Goiti, einem Preisträger des Berliner Artur Schnabel Wettbewerbs, beeindruckte das Orchester mit einer höchst respektablen, auch in den Details schön artikulierten Wiedergabe von Dvoráks Achter. Ohne die gründliche Probenarbeit des in Berlin nicht unbekannten Dirigenten wäre eine solche Homogenität kaum zu erreichen gewesen.
Eigentlich kein Jugendorchester ist das New Georgian Philharmonic, das vor neunzig Jahren als Staatliches Symphonieorchester Georgiens gegründet wurde. Eine Verjüngung fand 2013 statt, als viele Studenten des Konservatoriums von Tbilisi aufgenommen und Nikoloz Rachveli zum Dirigenten gewählt wurde. Auf dem Programm stand Musik zweier Komponisten, die in diesem Jahr ihren achtzigsten Geburtstag feiern: des Esten Arvo Pärt und des persönlich anwesenden Georgiers Giya Kancheli. Beide Komponisten, die früh in den Westen gingen, haben ihren eigenen Stil gefunden, zu dem religiös-meditative Elemente gehören. Pärt hatte 1968 mit seiner Komposition „Credo“ für Klavier, gemischten Chor und Orchester in seiner Heimat noch einen Skandal ausgelöst, weil er Bachs berühmtes C-Dur-Präludium aus dem „Wohltemperierten Klavier“ in ein christliches Glaubensbekenntnis verwandelt und mit schroffen Clustern konfrontiert hatte. Dieses frühe Werk besaß mehr Kraft als viele seine bekannteren Kompositionen im Glöckchen-Stil, von denen nun die formal konzentrierten Streichorchesterstücke „Für Lennart in memoriam“ und „Trisagion“ zu hören waren.
Dagegen blieb Giya Kancheli in seinem gesamten Schaffen von der filmischen Schnitttechnik geprägt. Die oft verwendeten Trugschlüsse wirken zunächst geheimnisvoll, verlieren jedoch durch häufige Wiederholung ihr Überraschungsmoment. Im zarten „Silent Prayer“ für Violine, Violoncello, Streichorchester, Vibraphon und Tonband, das Kancheli 2007 seinen Freunden Rostropowitsch und Kremer zum Geburtstag widmete, spielte der äußerlich Gidon Kremer ähnelnde estnische Dirigent Andres Mustonen das Violinsolo und orientierte sich dabei in seiner ganzen Gestik am Vorbild des großen lettischen Geigers.
Ein Friedensorchester für Beethoven
Schon frühere Ausgaben von Young Euro Classic hatten zum Zweck der kulturellen Begegnung eigene Orchester ins Leben gerufen. Junge Musiker aus der Ukraine, aus Russland, Deutschland und Armenien bildeten nun das Young Euro Classic Friedensorchester, das zum Festival-Abschluss Beethovens Neunte Symphonie spielte. Musikstudenten aus Kiew, St. Petersburg, Berlin und Jerewan hatten zehn Tage in einer Berliner Turnhalle geprobt, zuletzt unter Leitung von Enoch zu Guttenberg, der außerdem seinen Chor der KlangVerwaltung zu dem symbolträchtigen Projekt beisteuerte. Frank-Walter Steinmeier, der Schirmherr des Abends, stellte die Zusammenarbeit junger Musiker, ihr gemeinsames Feiern und Fußballspiel, in einem locker vorgetragenen Grußwort zunächst als etwas Normales dar. Leider gebe es aber momentan zwischen der Ukraine und Russland keine Normalität. Musik könne gegen Sprachlosigkeit angehen, das Schweigen beenden und dazu beitragen, einander zuzuhören.
Enoch zu Guttenberg war an diesem letzten der insgesamt 18 gutbesuchten Festival-Abende unermüdlich im Einsatz und schlug mit großer Detailfreude und meist schnellen Tempi Feuer aus dem internationalen Klangkörper. Nach dem stockenden, teilweise sogar langatmigen Adagio-Satz ließ das Finale umso mehr aufhorchen. Ein russischer Bass, der schon lange in Westeuropa lebende Mischa Schelomianski, sang nicht ohne Vibrato die mahnenden Worte „Oh Freunde, nicht diese Töne“. Zusammen mit dem ukrainischen Tenor Alexander Schulz-Kulischenko, der armenischen Altistin Seda Amir-Karayan und dem strahlenden Sopran Susanne Bernhards (Deutschland) bildete er das recht homogene Solistenquartett. Imponierend textverständlich und kraftvoll antwortete der große Chor der KlangVerwaltung mit dem berühmten Freudenhymnus, dessen Schiller-Worte einen leider nie verwirklichten Menschheitstraum zum Ausdruck bringen.
Die Wirklichkeit zeigt immer wieder neue Probleme bei der Verbrüderung. So sollen die jungen Musiker und Musikerinnen bei ihren Proben politische Diskussionen ganz ausgespart haben. Wohlweislich? Konzerte wie diese stellen aber Mitwirkenden und Hörern ein Ziel vor Augen und Ohren. Sie tragen bei zu jenem Wandel durch Annäherung, den der kürzlich verstorbene Egon Bahr so folgenreich verfochten hat. Vor zwei Jahren hatte er beim Abschlusskonzert von Young Euro Classic noch das Grußwort gesprochen.