Wenn der rasende, spontane Freejazz von Jacques Demierre, Barry Guy und Lucas Niggli ein ganzes Festivalzelt zum Toben bringt, wenn viele Musikinteressierte nach durchfeierten Nächten und vorangegangenen Konzertmarathons scharenweise zu den improvisierten Sessions der Moerser Vormittagsprojekte strömen, dann können ästhetische Wagnisse keine Minderheitenangelegenheit sein. In Moers sowieso nicht und das funktioniert auch ohne den WDR mindestens so gut! Einmal mehr profilierte sich das Pfingstereignis am Niederrhein als unkopierbarer, vor kreativer Unruhe vibrierender Organismus.
Zwar waren – nicht zuletzt wegen höherer Ticketpreise – die Publikumszahlen eher rückläufig. Wer dennoch kam, konnte ein Wahrnehmungsexperiment wagen. „Konzerte im Dunkeln“ wollen auf Betreiben der „Aktion Mensch“ die Vorstellung der Sehenden für die Welt der Blinden sensibilisieren. Wenn etwa zwei Schlagzeuger und ein Pianist im völlig abgedunkelten Raum improvisieren, kann sich wirklich nichts mehr zwischen den unmittelbaren Klang und das eigene Hörzentrum stellen. Das Klangerlebnis wurde plastischer und vor allem bei strukturell freier Musik beflügelte das direkte Ausgeliefertsein ans Hören Fantasie und Assoziationskraft.
Ursubstanz im Mittelpunkt
Wo „Jazz“ in Moers zuweilen in Richtung Beiwerk tendierte, rückte Burkhard Hennens Programmauswahl die eigentliche Ursubstanz des Festivals wieder stärker ins Zentrum: Etwa als ein traumhaft besetztes Charles Lloyd Quartett in vollendeter Reife die höchste Kunst von modernem Jazz vorführte. Mehr noch: Ergreifend in seiner Wirkung und frenetisch gefeiert lebte Lloyd sein von Spirituals beeinflusstes Spiel als meditativen Zustand. Lloyds Spiel floss aus dem Altsaxophon in einer emotionalen Direktheit, in der Worte schnell an ihre Grenzen stoßen, um diesen Ton, dieses Spiel, und dieses Klima zu beschreiben, das sich in den ausgiebigen Soli entfaltete. Lloyds Band ist auf der Höhe der Zeit – mit einer überirdischen Rhythmusgruppe und einer Geri Allen am Piano, deren klangliche Finesse den Lloyd’ schen Kosmos respektvoll weiter ausmalte, kontrastierte und verdichtete!
„The Sun Ra Arkestra“ zelebierte eine „Stern“-Stunde im wörtlichen Sinne, entführte in ein Jazz-Märchen, das in eine Zukunft blickt, die schon längst wieder Geschichte ist, überzogen mit einer Patina, die so bunt und schillernd wie die Kostüme der Musiker anmutet. Bei alldem agierten die betagten Musiker würdevoll und überlegen. Für sein letztes, großes, hymnisches Solo tauschte Bandleader Marshall Allen sein Sax gegen einen seltsam anmutenden Analogsynthesizer zum Hineinblasen – sollte so der Jazz seine glühenden Botschaften in ferne Galaxien hinaustragen? Wo andere schnellebig auf Streiflichter setzen, gehen die Moerser Schwerpunktthemen in die Tiefe, um aktuelle Trends leben und wachsen zu lassen. Also hatte die Schweizer Szene in Moers ihren richtig großen Auftritt: Der junge Pianist Michel Wintsch führte vor, wie die „klassische“ Konstellation des Klaviertrios als Vehikel für neue Ideen in Fahrt zu bringen ist. Im Trio schuf er ein mitreißendes Ideenfeuerwerk, das mit staunenswertem Stilgefühl Experiment und Emotion vereinte – vielleicht würde es Paul Bley, wenn er heute jung wäre, so machen…
Lucas Niggli scheint zum neuen Moerser „Artist in Residence“ zu werden. Sein „Steamboat Switzerland Extended Ensemble“ lieferte einen der wirkungsstärksten Beiträge des Festivals: Schwere Orgelsounds eröffneten David Dramms 60-minütige Komposition „Orange Slice“, die von erbarmungslos wiederholten Rhythmusimpulsen vorangetrieben, immer mehr und unaufhaltsam einen überkochenden Höhepunkt anvisierte – Minimalismus traf hier auf eine Rock-Dramaturgie, die Berge versetzte!
Andres versetzte regelrecht in Trance: Aus der französischen Schweiz kam Pierre Audetat, in dessen Band ein Sampling-Keyboard an die Stelle der Rhythmusgruppe getreten ist. Dessen Beats und Loops entfalteten erstaunliche hypnotische Texturen, auf deren Grundlage Gitarre, Posaune und Altsax ihre Licks abfeuerten – ein futuristischer Spacefunk mal diesseits und mal jenseits der Grenze zur ironischen Brechung des Bestehenden.
Erstarrte Schablonen
Ermüdungserscheinungen zeigt das Thema Japan in Moers: Rock und Jazz wollte Kazetoki Umezus „Kiki Band“ verbinden, blieb dabei aber – wenn auch mit viel Druck und solistischer Akrobatik – in halbwegs erstarrten Stilschablonen stehen. Für so etwas gab es zu spannende Konkurrenz: Etwa das niederländisch/britische Duo aus Michel Borstlap, Piano und dem Ex-King Crimson-Drummer Bill Bruford, das in erfrischend lockerem pointenreichen Spielfluss zu gewitzten Dialogen aufspielten.
Im Abschlusskonzert machte der türkische DJ Mercan Dede vor, wie sich die eigene Musiktradition mit den Tanzbeats der Clubs vereinen lässt, wenn man nur das übergreifende Bindeglied erkennt – und den Mut zum Kompromisslosen nicht verliert: Trance findet in der religiösen Versenkung der Sufi-Derwische statt und ist das zentrale Element beim Rave-Erlebnis. So etwas gab es in Moers noch nie: Ein Tanztrio, dass in den wallenden Gewändern der Sufi-Derwische in prächtigen, märchenhaften Drehbewegungen aufging, während Beats und Percussions pulsierten…