Intermedialität, Assoziationsketten und Polysemantik ergänzen und obsiegen über Wagners originale Handlungsvorgaben in dem von Frank Castorf in Bayreuth inszenierten „Ring“-Zyklus. Wer sich daran stört, muss sich mächtig ärgern, aber wer sich auf die neue Sichtweise einlässt, kann insbesondere im dritten Teil der Tetralogie Ungewöhnliches und auch viel Spaß erleben.
Die Überschreibungen des Originals machen auch nicht vor der konkreten Musik Halt, wenn es sich dabei um deren szenischen Einsatz handelt. So setzt Siegfried, anstelle des Rohrs, mit dem er im Original versucht, die Weise des Waldvogels nachzuahmen, diverse Utensilien aus dem Abfalleimer ein; tatsächlich verwendet ja bereits Wagner an dieser Stelle eine die endlose Melodie interpolierende Geräuschkunst. In der Fortsetzung watet Siegfried – anstelle seines Hornrufs (der gleichwohl aus dem Orchester ergänzend erklingt) – laut platschend in einer Pfütze und weckt so erstaunlicherweise den schlafenden Fafner. Der hatte sich in der vorangegangnen Szene mit lockeren, durch Geschenke an sich gebundenen Damen, sowie einem Krokodil als Haustier umgeben und wird nun von Siegried kurzerhand mit der Kalashnikow umgemäht.
Mit dem Vorspiel hinter geschlossenem Vorhang nimmt Dirigent Kirill Petrenko den Zuschauer an die Hand und führt ihn über liegende, die Gefahr situierende, tiefe Blechbläser zur Höhle, als einer plastischen Gedankenwelt, die von Aleksandar Denić geschaffene sozialistische Parodie auf den Mount Rushmore, mit den plastischen Häuptern der kommunistischen Revolutionäre Marx, Lenin, Stalin und Mao.
Davor signalisiert der silberne Boller-Wohnwagen die Welt der Nibelungen, vertreten durch den schwulen, sich seinen Kaffee mit unzähligen Würfeln überzuckernden Mime (Burkhard Ulrich) und den angebundenen, vom Barkeeper zunächst zum Bären, dann selbstgeschminkten Schwarzen und Zwergwüchsigen mutierenden Underdog (Patrick Seibert). So gibt es in der Höhle statt der üblichen Zweier-, quirlige Dreierszenen, hektisches Gegeneinander mit vielen falschen Tönen von der Bühne, offenbar beabsichtigten Veränderungen (bei Siegfried zur charakterisierenden Überzeichnung) und auch unbeabsichtigten. Siegfrieds Freiheitsdrang-Lied erklingt überhetzt, in einem kaum mehr sangbaren Tempo. Zudem sind sich die Stimmen von Siegfried und Mime all zu ähnlich – und unschön.
Das bessert sich merklich im zweiten Aufzug, wo Lance Ryan durchaus die lyrischen Momente des Siegfried mit mehr Legato und auch mit tragend schönen Piani angeht, – über einem vom Festspielorchester herrlich klangvoll, blühend aufgefächerten Waldweben.
Wie Schillers Gessler pflanzt der Wanderer (rundweg überzeugend: Wolfgang Koch) seinen Hut auf eine Stange (seinen Speer). Sein Dialog mit Alberich erfolgt – mit optischem Bezug auf die Handlung im „Rheingold“ – unterkühlt auf Campingmöbeln, bis der Wanderer aus der Rolle fällt und den Tisch mit den Füßen in die Luft schleudert. Seine ersten heterosexuellen Erfahrungen macht Siegfried mit dem Waldvogel, einer kubanischen Show-Tänzerin, von Mirella Hagen textverständlich, klangschön und agil verkörpert.
Im dritten Aufzug ist aus dem Underdog der homoerotischen Bindung zu Mime ein mit Slapstick agierender Kellner am Alexanderplatz geworden, dessen geheime Hauptfunktion jedoch die Stasitätigkeit ist: er überwacht Menschen an Monitoren und notiert sich übereifrig die Geschehnisse.
Extrem eigenwillige und heftige Textcharakterisierungen setzt die herrlich singende Nadine Weissmann als Erda ein, Wotans verflossene Geliebte, die erst mit blonder Perücke zum Ziel kommt und ihn oral befriedigt, was in Großaufnahme auf den Screen des Bahnhofs Alexanderplatz übertragen wird.
Petrenko verdeutlicht beim Dialog des Wanderers mit Siegfried sehr schön die Parallelsituation des pädagogischen Eros, wie sie Hans Sachs gegenüber Walther von Stolzing (in den vor diesem „Siegfried“-Aufzug entstandenen „Meistersingern“) einsetzt. Dann aber schlägt das Gespräch wieder in motorische Aggression um, und ohne dass der Wanderer den Speer als Sperrbezirk vor dem Territorium der schlafenden Brünnhilde halten müsste, ergreift ihn Siegfried und zerknickt ihn mit den Händen.
Erst wenn man Castorfs komplette „Ring“-Inszenierung kennt, kann man jene Projektion zuordnen, die als Video parallel zu Brünnhildes Erwachen antizipierend abläuft: der blutüberströmte, tote Siegfried wird aus dem Wald per Pferd hinter sich her geschleift. Hier folgt die Regie sehr deutlich der Musik Wagners, denn Siegfrieds letzte Szene zitiert ja das Erwachen Brünhildes. Obendrein hebt diese beim Aufwachen zunächst nur einen Arm hoch – und nimmt so die sich warnend erhebende, beringte Hand des toten Siegfried vorweg. Weiter entspricht das Pferd im vorproduzierten Video dem besungenen Ross Grane, das während Brünnhildes Schlaf „im schattigen Tann“ von Siegfried ebenfalls schlafend angetroffen wird.
Nach einer spannenden Virtualisierung des Raums bei der Begegnung von Siegfried und Brünnhilde, wechselt die Szene mit Brünnhildes „Ewig war ich, ewig bin ich“ wieder auf den Alexanderplatz, wo auf den Biertischen noch das Geschirr des Treffens von (Schwieger-)Mutter Erda und (Groß-)Vater Wotan herumsteht. „Ein herrlich Gewässer wogt vor mir“, bezieht Siegfried nicht auf Brünnhilde, sondern auf die Krokodile – das vervielfachte Überbleibsel der Bewachung Fafners per „Riesenwurm“ – und eine deutliche Hommage Frank Castorfs an Pina Bausch („Keuschheitslegende“).
Die parallel zur Begegnung des hohen Paars Brünnhilde und Siegfried koitierenden Krokodile haben seit dem vergangenen Sommer Nachwuchs bekommen: nun kriecht auch ein junges, mit beweglichen Füßen kreiertes Krokodil auf Siegfried und die als Braut gewandete Brünnhilde zu. Das hungrigste Krokodil wird von ihr mit dem zusammengeklappten Sonnenschirm gefüttert, das andere aber verspeist die vordem als Waldvogel aufgetretene junge Gewandmeisterin aus den gekachelten Untiefen des Bahnhofs Alexanderplatz – doch Siegfried rettet seine erste Geliebte aus dem Schlund des Reptils. Bei der leidenschaftlichen Umarmung mit seiner asiatischen Ex-Geliebten fordert Brünnhilde ihr Recht ein und zieht Siegfried in den Hintergrund ab. Traumhaft schön singt Catherine Foster, dramatisch zugespitzt, die Brünnhilde und Lance Ryan ist ihr mit erstaunlichen Kraftreserven ein bis zum Ende steigerungsfähiger Partner.
Bereits nach dem Ende des ersten Aufzugs waren Buh- und Bravorufe aufgebrandet. Nach dem Fallen des Schlussvorhangs wogte ein heftiger Kampf der Gegner und Befürworter dieser optischen Para- und Metaebene von Wagners Handlung. Aber mit den Auftritten der Sängerdarsteller mündete er in einhelligen emphatischen Applaus (mit Ausnahme einsamer, schwer nachvollziehbarer Buhrufe für Oleg Bryjaka als Alberich), und in Bravostürme für den Dirigenten Kirill Petrenko.
Die nächsten Aufführungen: 13. und 25. August 2013.