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Mehrere dreier Strahler leuchten auf die leere und dunkle Bühne. Tänzerinnen werden teilweise von den Scheinwerfern getroffen. In der Mitte rechts steht, wie ein winziges Gewächshaus, eine Palme in einem Käfig.

Poetisch getanzter Dualismus von Gut und Böse: Das Leipziger Ballett in „Lost Paradise“. © Ida Zenna

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Kühl und sportiv: Das Leipziger Ballett mit „Paradise Lost" nicht nach Milton

Vorspann / Teaser

Auf „Fusion“, die Auseinandersetzung des Leipziger Ballett mit KI, folgt jetzt „Paradise Lost“. Dieser Titel klingt einfach gut, auch wenn sich die Bezüge zum gleichnamigen Epos von John Milton aus dem Jahr 1667 auf ein paar Sätze im Programmheft beschränken. Joseph Haydns „Nelson-Messe“ paart sich mit David Langs post-tonalem Opus „The Match Girl Passion“ (2007). Nach 80 Minuten ergießt sich ein Bravo-Regen auf die dunkle Bühne, die Chormassen, die Soli, das Gewandhausorchester, das Leipziger Ballett und den choreographierenden Ballettdirektor Mario Schröder.

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Am Ende liegen die Menschen auf einem Haufen und die hohe Pflanze im portalhohen Flaschengarten sieht bis dahin ein bisschen falb aus. Es gibt die eine Frau, die wie in Hans Christian Andersens berühmten Märchen „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern" durch mehrere Visionen-Stationen an dieses Ende kommt. Im Märchen erfriert das Mädchen an der Jahreswende – ganz allein, während die anderen feiern und die Lichter glänzen. Es ist egal, ob Späne oder Papier zwischen den Sätzen und Stationen entzündet werden und kurz flackern.

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Mit noch größeren Personalmassen als das Leipziger Ballett treten die Chöre an. Der Chor der Oper Leipzig, der Kinder- und Jugendchor stehen hinten sowie auf Stufen links und rechts des Orchestergrabens. Die Musik dominiert visuell, weil es auf Andreas Auerbach weitgehend leerer Bühne mit den sich zu einer Hausform in der Höhe zusammenziehenden Stäben nie richtig dunkel wird. Sophie Bauer, Thomas Eitler-de Lint und Gregor Meyer haben ihre Kollektive zu mustergültiger Qualitätshöhe ohne Fehl und Tadel getrimmt. Die Musik dominiert auch in den Sätzen von Joseph Haydns „Missa in angustiis" (Nelson-Messe), weil die intimen Momente der Komposition – die gibt es – zu machtvoller Einschüchterungsmonumentalität aufgeblasen sind. Davon ist im Kyrie-Satz vor allem die Sopranistin Samantha Gaul betroffen, die an einem ungünstigen Platz stand, forcieren musste und wohl nur deshalb zuerst leicht scharf klang.

Kontemporäre Zusätze

David Langs mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnetes Opus „The Match Girl Passion" von 2008: Gläserne Post-Tonalität ist das, von Lang angereichert mit – wohl entscheidendes Argument zur Aufführung in Leipzig – Texten aus Johann Sebastian Bachs „Matthäuspassion". Durch Langs Musik findet der Flaschengarten als symbolträchtiges Memorandum an die Zeit vor der Anthropozän-beschleunigten Katastrophen-Klimax eine wohlbekömmliche Entsprechung. Die Mezzosopranistin Yajie Zhang, der Tenor Sebastian Seibert und der Bass Yorck Felix Speer agieren auf dem Anspruchsniveau des Hauses. Die Hosen und Hemden von Verena Hemmerlein unterstützen Schröders klar modellierte, stellenweise virtuose und immer sportive Choreographie. Aber auf die durchaus vorhandenen leise, introspektive Momente in Schröders gesamtkünstlerischer Bühnenvision lassen sich Matthias Foremny und das Gewandhausorchester nicht ein. Musikalischer und tänzerischer Ausdruck sind selten in Übereinstimmung.

Am Anfang fallen Projektionen eines Walds mit kahlen Stämmen, fahlem Licht und müden Nebeln auf den Portalschleier. Dann werden wachsen David Langs Akkorde allmählich vom atmosphärischen Kolorit zu klanglicher Verdichtung. Die eigentliche Choreographie beginnt mit dem Anwinkeln von Knien, dann mit dem auch später immer wieder von Schröder bevorzugten Kreisen der Arme nach oben. Es gibt Gelegenheiten zu vielen athletischen Sprüngen.

Miltons Monumentalepos lädt die Genesis-Figuren im Garten Eden mit etwas auf, was Adam, Eva und die Schlange, das Prinzip des Bösen, im alttestamentarischen Urtext nicht, in den Apokryphen selten haben: Sie werden zu poetischen Figuren, die das durch den Dualismus von Gut und Böse entstehende Leid und die Sehnsucht nach spiritueller Geborgenheit reflektieren. Das sieht man bei Schröder allerdings kaum. Der Riss ist bei Langs getragenen Sätzen deutlicher hörbar. Tanz bleibt durch die vorne und hinten aufgestellten Klangmassen eingeschachtelt, Energiezuwachs durch Reibung an der Musik gibt es bei Schröder nicht. Trotzdem: Diese funktionalen Bewegungsfolgen machen Eindruck.

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