Es ist schon merkwürdig. Erstaunlich viele große und kleine Theater haben im näheren oder weiteren Umkreis des Jubiläums-Jahres „La clemenza di Tito“, sonst eher ein Stiefkind des Mozart-Repertoires, angesetzt und weitere Bühnen werden noch folgen. Aber keine hat – ist es Gedankenfaulheit oder Bequemlichkeit – sich auseinandergesetzt mit den von Manfred Trojahn komponierten Orchesterrezitativen, die schon 2002 in Amsterdam uraufgeführt worden waren und allseits höchste Anerkennung gefunden hatten.
Mit gutem Grund, wie sich jetzt am Staatstheater Braunschweig zeigt, das als deutsche Erstaufführung die Trojahn-Fassung des „Titus“ aufführt. „Fassung“ – der Ausdruck kann irreführen. Keine Note von Mozart wird angetastet. Alle musikalischen Nummern und auch die Accompagnato-Rezitative verbleiben so, wie sie 1791 geschrieben worden sind. Freilich, sie leuchten nun in anderem Licht, positionieren sich neu in einem fremden Kontext, weil die ausgedehnten Secco-Rezitative – von Süßmayr oder sonstwem, man weiß es nicht, aber jedenfalls nicht von Mozart geschrieben – verschwunden sind. Trojahn hat sie, den Text des Librettos unverändert aufnehmend, neu komponiert als Orchester-Rezitative, die dem Instrumentarium des „Titus“ folgen und dabei in eine andere Welt führen.
Der Zugewinn ist immens. Trojahn hat gespürt, dass man, um Mozart nahe zu kommen, sich von ihm ganz fern halten muß. Er baut mit den Rezitativen eine andere Klangwelt auf, vielleicht nicht allzu fern den Seelenwelten seines „Enrico“; bohrende Porträts von Leidenschaften und Gefühlen, von Verstörungen, Abgründen und Verlorenheiten. Die hergebrachten Rezitative, weit unter der konzentrierten Stringenz in den Da-Ponte-Opern und oft kaum mehr als bloßes, langatmiges Transportmittel des Handlungsfadens, wechseln hier zu einer dringlichen und nervösen Befragung der Figuren, einer Schärfung ihrer Charaktere, den Zumutungen, denen sie ausgesetzt sind, den Anmutungen, zu denen sie sich erdreisten. Vom scheinbar klassischen Kothurn der Seria stürzen sie sich mit Trojahn in die Psychogramme und Beziehungsgeflechte sehr heutiger Menschen und tauchen daraus, um geschärfte Profile bereichert, wieder in Mozarts Opernwelt vom milden Herrscher zurück.
Das Überraschende ist, wie gut sich die beiden gegensätzlichen musikalischen Welten vereinen und gegenseitig potenzieren, obwohl sie streng getrennt bleiben. Nur einmal bereitet Trojahn eine Mozart-Formulierung vor, sonst immer werden die Übergänge von Trojahn zu Mozart, wie von Mozart zu Trojahn wie strenge Schnitte gesetzt. Zwei Zungen erzählen in ihrer ganz eigenen Sprache die gleiche Geschichte von den gleichen Menschen, und beiden hören wir mit gleicher Aufmerksamkeit zu.
Trojahns Klangwelt ist von äußerst differenzierter, leuchtender, changierender Farbigkeit – dass der Komponist sich dabei Strauss, Alban Berg und Henze nahe sieht, wird für den Hörer unmittelbar fassbar. Beherrschende Instrumente in der Mozartschen Partitur, kommen in einem ganz anderen Umfeld und in anderer, weiterführender Funktion zu den einzelnen Figuren zurück – die berühmte Bassettklarinette des Sextus zum Beispiel, die schrille Hysterie der Klarinetten für die übersteigerten Aufwallungen der Vittelia, und das mit den Rezitativen verwandte Cembalo zieht mit Titus wieder in die Oper ein, jetzt nun als markant illustrierendes rhythmisches Element, in dem Angst, Wut und Unrast des Kaisers hochkochen.
Dass diese Verschränkung zweier musikalischer Welten so selbstverständlich gelingt, als könne es gar nicht anders sein, ist in Braunschweig vor allem dem Dirigenten Jonas Alber zu danken, der mit scharf durchhaltender Spannkraft für Mozart recht angezogene Tempi vorgibt und für Trojahn eine filigrane Ausarbeitung des dichten orchestralen Geflechts erreicht.
Ein hochbesetztes Ensemble mit Tomasz Zagorski als Titus, Susanna Pütters als Vittelia und Karolina Gumos als Sextus; eine energisch pochende Inszenierung von Uwe Schwarz, die klassische Bilder unaufdringlich in einer modernen Welt aufgehen lässt: wieder einmal ein Beweis mehr für die künstlerische Kraft unserer mittleren Bühnen, die mit Ernst und Einsatz den Dingen oft besser auf den Grund kommen als manche der eventsüchtigen großen Theater. Ein beredteres Plädoyer für Trojahn ist schwer vorstellbar – und danach, ist man ehrlich, ein „Titus“ ohne die Trojahn-Rezitative auch kaum.