Am 13.12.2013 fand das dritte Konzert der musica viva Reihe des Bayerischen Rundfunks im Herkulessaal der Münchener Residenz statt. Das Sinfonieorchester des BR unter Brad Lubman führte ein Werk von John Zorn zum ersten Mal in Deutschland auf und hob Uraufführungen von Philipp Manoury und Jorge E. Lopez aus der Taufe. Autor Alexander Strauch war dabei und konnte so Vergleiche mit den Tendenzen des Mottos der letzten Donaueschinger Musiktage anstellen.
Die konzertante „Großform“ ist dieses Jahr das Motto der Donaueschinger Musiktage 2013 gewesen. Zwei Phänomene des schwäbischen Musikfestivals schienen letzten Freitag zur musica-viva-Reihe des Bayerischen Rundfunks von dort nach München herüber geschwappt zu sein: das Motto in Form der Uraufführung von Jorge E. Lopez dritter Symphonie und der Träger des anlässlich der Musiktage vom SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden/Freiburg verliehenen Orchesterpreises, der französische Komponist Philipp Manoury. Der bekannteste Name der Trias der in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts geborenen Komponisten des musica-viva-Abends war allerdings der US-Amerikaner John Zorn. Seine erstmals hierzulande gespielten „Orchestra Variations“ aus dem Jahre 1996 waren das kürzeste Werk des Konzerts. Komponiert hatte er sein Stück zum Gedenken an Leonard Bernstein. Die letzten Aufführungen im englischsprachigen Raum verorteten dies Stück in der Zeit des Serialismus oder sahen Strawinsky hindurch schimmern. Für europäisch geprägte Ohren erinnerte das Stück mit seinen kurzen lyrischen Einsprengseln, expressiven Violin-Gesten, Celesta-Klingeln, Hoteldämpfer-Streichern, freejazzhaften Trompetenfetzen und breiten Liegeklängen der tieferen Bläser sowie einer zweimal aufscheinenden Holzbläserkontur, die zwischen Minimal Music und dem Widmungsträger durchschimmerte, vielmehr an Zorns gleichaltrige deutsche Kollegen wie Wolfgang Rihm oder Detlev Glanert. Unvermittelt brach der Fünfminüter ab, was das Publikum doch überraschte, so dass der Applaus danach irritiert aufbrandete, als wäre es, ohne zur Gänze in Donaueschingen gewesen zu sein, auf „Großform“ geeicht. Auf alle Fälle hatten sich damit der Dirigent Brad Lubman und das Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks bestens für die folgende Uraufführung aufgewärmt.
Die Uraufführung von Philipp Manourys „Zones de turbulence“ für zwei Klaviere und Orchester, ohne Live-Elektronik, die man meist mit dem Namen dieses Komponisten verbindet, knüpfte an der Kurzweil John Zorns an. Der erste Satz begann als aufbrausende Auffächerung, ebbte etwas ab und endete mit einer nach oben und unten rasenden Wischgeste, bevor es drohte strukturell ernst zu werden. Der zweite Satz dauerte nur zehn Sekunden, eine merkwürdige gemeinsame Kurzgeste aller Beteiligten. Satz drei ließ auf schnelle Klaviergesten ein spektrales Orchesterpedal folgen, garniert mit gedämpften Streicherimitationen und Steel-Drum-Sounds, was auch wieder zu Ende war, bevor es konkreter wurde. Das versuchte der vierte Satz, der die mittelschnellen Virtuositäten der beiden Klaviere nun mit entsprechend fahrigeren Aktionen ins Orchester mit finaler Trillerpfeife verlegte. Der letzte Satz ließ die vorangegangen nochmals anklingen und verabschiedete sich mit abschließenden, endlich mal klaren Unisono-Schlägen. Virtuos von den Solisten Andreas Grau und Götz Schumacher interpretiert, vom Publikum warm aufgenommen, stellte sich doch die Sinnfrage. In seiner Länge gleicht dieses Stück György Kurtags Meisterwerk „... quasi una fantasia“ für Piano und Orchester, ohne annähernd dessen Intensität zu erreichen. Ohne Zweifel bedient Manoury die Erwartungen der Programmierer von Konzerten mit zeitgenössischer Musik und spricht mit seiner immensen Klangerfahrung, effektvoller Instrumentation und kommensurablen Dauern nicht nur ein Fachpublikum an. Das verbindet ihn mit weiteren französischen und iberischen Kollegen, die alle mehr oder weniger dem Pariser IRCAM Pierre Boulez‘ verbunden sind. Allerdings überwiegt inzwischen der Eindruck, dass diese Komponisten, bei manchmal durchaus zu konstatierender Lebendigkeit, vor allem Abläufe von Sonogrammen ins Räumliche implementieren, sozialen, musikhistorischen oder gar politischen Fragestellungen aus dem Weg gehen. Wenn sie Texte vertonen oder zu Opern verarbeiten gibt es wenigstens ein bisschen Inhaltlichkeit, die meistens wieder hinter den effektheischerischen Klanggebilden verschwinden, bevor sie zum Denken anregen oder wehtun könnten.
Das Kontrastmittel dagegen wollte allerdings auch die „III. Sinfonie“ von Jorge E. Lopez nicht werden. Der Kubaner Lopez stellt sich inzwischen selbst derartig in die Tradition von Gustav Mahler und Alban Berg, so dass er nach biografischen Kurven über die USA endlich in der österreichischen Alpenlandschaft angekommen ist, von welcher Mahler sagte, dass er sie in seine tönenden Seelenlandschaften als formales Anregungspanorama eingebaut habe. Wie dieser schreibt Lopez ihnen nun endlich ebenfalls in seinem eigenem Kärntner Komponierhäusel auf der Suche nach dem persönlichen Ausdruckspotential hinterher. Das ist irgendwie rührend und er beschwor es tatsächlich streckenweise erfolgreich in seinem neuen großformalen Halbstünder – was für eine angenehme Dauer im Vergleich zu den Donaueschinger Oktober-Längen! Der erste Satz begann mit einer Gestaltung, als würde ein erster Themenkomplex des neunzehnten Jahrhunderts samt obligatorischer Periodizität geboren. Das bohrte sich meist in das Gründeln der Bassinstrumente hinein, ließ tiefe Doppel-Klarinettenregister a la Mahler aufschimmern, vollführte Bergsches Orchesterstück-Schlagzeuggepolter, wanderte artig Anschlüsse schaffend von oben nach unten und zurück. Manchmal kamen wiederum Gebilde zustande, die was rihmhaft Individuelles erzeugen wollten und doch gnadenlos autodidaktisch wirkten. Im zweiten Satz schickte Lopez die Flöten auf den hinteren Saalbalkon, als sänge endlich ein Knabensopran aus ätherischen Höhen, wie es Berg in frühen Sinfoniefragmenten plante und später doch lieber andere Pläne verfolgte. So wurde man Zeuge eines privaten Dramas, das allerdings auch nicht richtig losschlug, auflöste oder zusammenbrach, sondern vor sich hinsedierte wie pharmazeutisch eingedämmte Aufregungen. Letztendlich bewegte am ehesten das eigene Bild des Zuhörers vom Kubaner im Kärntner Komponierhäusel.