Die Premiere, vor knapp drei Wochen, fand wohl nur geteilte Aufnahme; inzwischen hat sich „Médée“ zu einem Triumph gemausert, als ein dramatisches Fest großer Stimmen, des imposanten Staatsopernchores und der unter ihrem GMD Daniel Barenboim fulminant aufspielenden Staatskapelle – ein Erlebnis.
Leider vermochte mich noch nie eine Regiearbeit von Andrea Breth voll zu überzeugen. Auch diesmal wirkt das graue Bühnenbild von Martin Zehetgruber mehr befremdlich als spezifizierend: Lagerhallen mit durch den Beton brechenden Rostflecken, Rolltore und metallische Lüftungskanäle, wie sie in den Unteretagen und Nebengebäuden der erneuerten Staatsoper original anzutreffen sind. Das ist weder atmosphärisch noch sinnstiftend. Doch was in diesen Lagerräumen auf und zwischen den Holzkisten geraubter Schätze an spielerischen Momenten passiert, das ist wirklich gut gearbeitet, bisweilen sogar fesselnd.
Die Lagerhallen stehen wohl für die Zivilisation, mit der Medea, gemeinsam mit ihrem Gatten Jason und ihren beiden Kindern, in Korinth konfrontiert wird. Mit dem aus Kolchis geraubten sagenumwobenen Schatz, dem Goldenen Vlies, muss sie erleben, wie Jason sich den Gastgebern andient und die Hochzeit mit der Tochter des Königs Kreon anstrebt. Die Enttäuschte bringt ihre Nebenbuhlerin und – zur Strafe an ihrem Gatten – ihre beiden Kinder um.
Seit Euripides wurde dieser Mythos wiederholt dramatisiert, in Worte und Töne gefasst. Luigi Cherubinis Version besticht durch ihre raffiniert instrumentierte Tonsprache, die Gluck als Vorbild nimmt und mit zukunftsweisenden, harmonisch verblüffenden Fortschreitungen aufwartet. Mitte des vergangenen Jahrhunderts hatte diese Oper einen heftigen Wiederbelebungsschub durch Maria Callas erfahren; die Diva machte die Titelpartie – in der ins Italienische übersetzten, deutschen Frankfurter Fassung mit Rezitativen von Franz Lachner – zu ihrem nachhaltigen Triumph.
Im zweiten Dezennium des 21. Jahrhunderts interessieren sich Regisseure erneut für die originale französische Fassung mit den für die Opéra Comique üblichen, gesprochenen Dialogen, wie sie 1797 in Paris ihre Uraufführung erlebt hatte. Auch in Berlin spielt man nun die Originalfassung in französischer Sprache, bewirbt gleichwohl die Produktion als „Medea“. Die Dialoge erklingen verkürzt und nicht im Versmaß – allerdings offenbar so, dass ein hinter mir sitzender Franzose meinte, er hätte nur wenig davon verstanden. Nach der Pause, im dritten Akt, setzt die Regisseurin als V-Effekt ein, dass Médée ihre Monologe elektroakustisch verstärkt flüstert.
Im Showdown des kurzen Schlussaktes passiert auf der Szene zwar nicht der von Cherubini bewusst hinter die Szene, in den Tempel, verlegte Mord Médées an Kindern, aber Jasons neue Frau Dircé rennt brennend zweimal quer über die Bühne – basierend auf einem erst von Simon Mayr in seine Oper „Medea in Corinto“ aufgenommenen Handlungszug, wonach Medea ihrer Nebenbuhlerin ein kostbares Kleid zur Hochzeit schenkt, in welchem diese am integrierten Gift verbrennt. Vorher, bei ihrer Vermählung – mit Bräutigam und Vater auf einer Kiste – hatte das Volk Geldscheine als Hochzeitsgeschenke an Dircés Kostüm geheftet.
In der von der Soloflöte virtuos konzertierend begeleiteten Eingangsszene macht Elsa Dreisig die Königstochter Dircé mit Terrassendynamik zur vermeintlichen Hauptpartie, und nutzt auch das Singen hinter ein Türblatt als Mittel zusätzlicher Dämpfung. Nuanciert gestenreich, wie im Schauspiel, ist der amerikanische Tenor Charles Castronovo geführt. Er gestaltet den Jason als einen wendig stimmbewaffneten, bisweilen etwas kehligen Schwächling, der den Frauen seiner Umgebung offenbar rettungslos verfallen ist. Médée, seine Ex-Liebe und Mutter seiner Kinder, traktiert ihn mit heftigen, Pausen einfordernden Küssen und mit Schlägen in seine Genitalien; Dircé, seine Zukünftige, erweist sich als Stalkerin, die ihn mit Verachtung straft, da er auch mit einer ihrer Begleiterinnen (Sarah Aristidou, Corinna Scheurle) ein Verhältnis hat.
Die von Carla Teti ins späte 20. Jahrhundert verlagerten Kostüme erlauben es König Créon, in Hosenträgern Médée körperlich zu bedrängen und sich später seine offene Krawatte neu zu binden; verhalten, mit gedämpfter Wotan-Diktion, gestaltet ihn der schottische Bassbariton Iain Paterson. Unklar in ihrer Funktion bleibt die schwarz verhüllte Amme, wie ein Schatten der Médée; aber die vom Solofagott begleitete Arie der Néris macht Marina Prudenskaya zu einem Höhepunkt des Abends.
Sonya Yoncheva in der Titelrolle ist in ihrer Exzessivität eine Wucht. Auch wenn ihre Spitzentöne oft scharf klingen oder schlichtweg zu tief intoniert sind, überzeugt die bulgarische Sopranistin durch ihren immensen Einsatz, wenn sie voluminös singend durch die Lagerhallen der rotierenden Drehbühne tigert, mit dunkel geschminktem Gesicht und Körper – als Pendant zu den dunkelhäutig gecasteten Knaben.
Der mittelgroß besetzte Chor, häufig auch aus dem Off, schafft ein differenziert dichtes Klanggefüge, und auch die ebenso numerisch reduzierte, trefflich disponierte Staatskapelle sorgt für uneingeschränkten Genuss. Pointiert entfacht Daniel Barenboim mit Beethovenscher Verve die aufpeitschende Musik – und er trinkt ostentativ ein Glas Wasser, wenn das Bühnenorchester seines Dirigats nicht bedarf. Cherubinis expressive Komposition ist bei Barenboim in den besten Händen.
Das Haus Unter den Linden klingt wie geschaffen für diese Partitur, akustisch gesehen weitaus glücklicher als bei Wagner oder Strauss, zumindest auf dem Platz des Rezensenten, auf der Seite des ersten Ranges – ohnehin ein Platz in diesem Hause, der sich als akustisch günstig erwiesen hat.
Vermutlich vermochte sich die Gesamtleistung dieser Produktion seit der Premiere zu steigern; die Qualität scheint weiter angehoben. Nach der 4. Aufführung ungeteilter Zuspruch, frenetischer Jubel des Publikums, leider auch schon inmitten der Aufführung.
Die sich in der Opernhandlung am Ende selbst entleibende Médée bricht in Andrea Breths Inszenierung erst nach dem Schließen des Hauptvorhangs an der Rampe tot zusammen. Dies soll wohl ihr Überleben als Opernfigur symbolisieren – analog dem Mythos, dem zufolge Medea zu den Unsterblichen gehört.
So oder so ist dieser Staatsopernbeitrag Plädoyer und Beweis fürs Überleben von Cherubinis Meisterwerk.
- Weitere Aufführungen: 25. und 28. Oktober 2018.