Leipzigs Opernintendant Tobias Wolff kann sich freuen: Die Ticketkasse brummt und Fans brüllten sich in der Musikalischen Komödie am Premierenwochenende die Kehlen heiser. Aber sie zeigten sich auch etwas enttäuscht, weil Schlagerlegende Howard Carpendale (78) nach den ersten Vorstellungen bei Paraden durch den Zuschauerraum kein einziges Autogramm gab. Nach dem Langzeit-Erfolg „Hape Kerkeling – Kein Pardon!“ wuchtete Thomas Hermanns als nächste Uraufführung eines Jukebox-Musical „Hello! Again?“ heraus. Ovationen überfluteten auch das Ensemble. Bei etwas flach theatralisierter Story brachten Songs von „Ti amo“ bis „Deine Spuren im Sand“ alle Publikumsgemüter zum Glühen.
In Leipzig huldigt das Jukebox-Musical „Hello! Again?“ der Schlagerlegende Howard Carpendale
„Lebenslänglich“, der Titel von Howard Carpendales Schallplatte von 1967, wäre auch eine gute Marke gewesen. Die Story von „Hello! Again?“ ist prima angedacht, politisch korrekt und vereinnahmt eine Vielzahl der Schlager Carpendales – von den essenziellen fehlt wirklich nur „Hurra, hurra, der Pumuckl ist da“. Dafür erklingt viel anderes um Ottilie, die mit zeitspringenden, medialen Fähigkeiten begabte Conferencière und Problemmoderatorin. Für diese schöne Rolle holte man die frühere Ensemblesäule Angela Mehling aus dem gerade begonnenen Ruhestand in einen bravourösen Unruhestand zurück. Mehling spielt die Hauseigentümerin Ottilie – lesbisch, in sich ruhend und vorbildhaft für die sich mit Attraktivität in Sinn-, Selbst- und Freudensuche zerreibende Mieterin Hanna. Ottilie erinnert sich an mindestens drei Generationen im Haus und die darin passierten Intimgeschichten von 1909 bis 2009. Die im irdischen und außerirdischen Leben munter Liebe machenden Geister sind im Hintergrund noch immer präsent, was Ballett und Komparserie (gekonnte Choreographie: Mirko Mahr), Chor und Extrachor (in Swing versetzt von Mathias Drechsler) reichlich Entfaltungsspielraum gibt. Aleksandra Kicas Kostüme entwickeln eine perfekte Farb-, Schnitt- und Materialsynergie zu den Songs von Carpendale, der seit der Premiere eine allerletzte Tournee 2026 ankündigt.
Trotz epochalen Langzeiterfolgs sieht und hört man im Leipziger Musical, dass Carpendales Songs stilistisch im soziologischen Schallraum der westdeutschen 1970er Jahre fokussiert sind: Immer schwingt ein bisschen Faschingsschlager-Simplizität mit, welche die in den Texten angerissenen Höhepunkte und Schieflagen auf klar gefasste Kernpunkte bringt. Es zeugt von echter Dekorationskunst, wie Hans Kudlich die Veränderungen vom Ottiliens Ein- zum Dreiparteienhaus werdenden Lebensraum vornimmt – mit kleinen realistisch anmutenden Geschmacksentgleisungen, die er nicht persifliert, sondern als Schattierungen des Daseinsstroms setzt. Es fehlt nur das Küchenradio mit schmetternden Carpendale-Hits.
Die Drinks sind bunt, aber Sicherungen brennen keine durch
Die Hippie-Truppe und die Drei-Künstler-Liebhaberin, welche sich unter anderem im Geisterschwarm tummeln, machen den Eindruck, als sei die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts viel freier und frivoler gewesen als die zweite nach der sexuellen Revolution. Die Dialoge der gutbürgerlichen Hanna (Roberta Valentini) mit ihren Partnern sind geradlinig wie die ideale Bügelkante einer Schlaghose. In dreißig Ehejahren mit dem Werbestrategen Rolf (Christof Messner) und dreißig parallelen Seitensprungjahren mit dem authentischen Strahlemann und Pizzabringer Matteo (Thomas Hohler) verclincht und verheddert sich Hanna, bis sie nur noch ans Malen und nicht mehr an Männer denken will. Trotz Co-Regie der in ihrem wissenschaftlichen Leben den genauen Grenzen von E und U nachspürenden Dr. Olivia Maria Schaaf bleiben die Dialoge im abgeflachten Fluidum eines Werbemelodrams zwischen zwei Mainzelmännchen-Clips. Sogar zur brisanten Entscheidung zwischen der Vertraulichkeit im Ehehafen und dem Prickeln venezianischer Abenteuer duftet es nach den Weichspülaroma von müdem Spätsommer. Die Drinks sind bunt, aber Sicherungen brennen keine durch. Alles geht sehr anständig ab. Unrealistisch wirkt, dass Tochter Lisa (Da-yung Cho) und deren Herzensmann Kostya (Ivo Kovrigar) die jüngeren Abziehbilder der Eltern sind. Die reife Ottilie verkörpert also mehr Permissivität als alle Nachgeborenen. So wird „Hello! Again?“ über weite Strecken ein Prosit auf die westdeutsche Spießigkeit vor 1989 und deren gesamtdeutsche Folgen bis 2009. Das aufregendste sind dabei Matteos Hemden, die Modelle der Pizzakartons und die mehrfarbigen Strohhalme. Auch das ist ein theatrales Spiegeln von Carpendales Schlagerparadies, das alles mit Prägnanz auf den Rhythmus- und Faktenpunkt bringt.
Die Haltung des neuen Chefdirigenten Michael Nündel zeigt Können und Kreativität. Das Orchester der Musikalischen Komödie macht nämlich nicht auf üppig überfütternde Entertainment-Symphonik. Es imitiert kantige Einzelakkorde mit Pizzikati, verdoppelt kaum einen Melodienschub und findet deshalb überraschend Ausgekargtes bei Carpendale. Durch derlei Transformationen hat die Neuproduktion echt hohes Format, weil sie musikalisch über die Stilkopien der Wirtschaftswunderwelt vor 50 Jahren kreativ hinauswächst. „Wie frei willst du sein“ ist also mehr als die Frage in einem Carpendale-Titel und betrifft die Genredefinition generell. Jukebox-Musicals sind mit der dramatisch stringenten Reihung von Songtiteln zum Theaterstück so etwas wie die Aufsatzform der Reizwortgeschichte im Unterricht. Beides beginnt erst richtig zu vibrieren, wenn pulsierende Phantasie die Sachdefinitionen bereichert. Auch die sonst verschwenderisch gestalteten Musical-Uraufführung „Hello! Again?“ hatte mehr etwas von einem Faktencheck als echte Nostalgie.
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