„Ohr und Auge“ zu verknüpfen, das hatte sich das Netzwerkprojekt Musik 21 Niedersachsen für sein diesjähriges Festival vorgenommen. Vom 16. – 18. August brachte das Musik 21 Festival junge und etablierte Komponisten und Ensembles in Hannover zusammen und feierte nebenbei 20. Geburtstag des Hausensembles Das Neue Ensemble. Unter künstlerischer Leitung von Schlagzeuger, Komponist und Dirigent Stephan Meier fand das Festival nun bereits zum sechsten Mal statt.
„Unsere Ohren sind blind für die Lagen dazwischen“, bemerkte Stephan Meier, künstlerischer Leiter von Musik 21 Niedersachsen, vor dem Konzert des Pariser Ensembles L'Instant Donné am Samstagnachmittag im Künstlerhaus Hannover. Das Porträt-Konzert für Frédéric Pattar widmete sich einem „Blinden Spiegel“ – so der thematische Titel –, sinnbildlich für ein inneres Sehen über feinste Hörimpulse. Und wirklich, ein Schleier, den es zu lüften galt, hing über den Kammer-Ensemblestücken des Franzosen. Gab man sich dem ästhetischen Spiel hin, so verließ die Wahrnehmung den weißen Saal im Obergeschoss des Künstlerhauses. Wie eine längst verklungene Melodie, von der nur Bruchteile die Oberfläche des Hier und Jetzt erreichen, tupften die sechs Musiker die Klänge Pattars in den Raum. Und öffneten die Ohren über feinste Pointierungen für die Zwischenschichten.
Tiefere Wahrnehmungsschichten sprach auch die Aufführung zweier Stücke Sofia Gubaidulinas an. Ihr De profundis für Akkordeon Solo, interpretiert von Nikola Milo, reizt die Extreme aus. Und auch das Streichquartett Nr. 4, gespielt vom Nomos-Quartett, ließ die hochsensiblen Klangschichtungen der tatarischen Komponistin aufleben. Als Nachtkonzert war es der zweite Teil des Geburtstagsabends für Das Neue Ensemble, das zuvor seine interpretatorische Bandbreite von Benjamin Langs Gleaming Blur bis zur Uraufführung What is it like to be a bat? des jungen Komponisten Maximilian Schnaus bewiesen hatte. Das Ensemble beschenkte sich und sein Publikum zudem mit der Veröffentlichung eines interaktiven Jubliläumsbuches.
Das Auge einbeziehen wollten zahlreiche kleinere Ensemblestücke an den drei Festivaltagen. Die unterschiedlichen Versuche, Video-Kurzfilme zu integrieren, gelangen jedoch nicht durchgängig. Nicht nur Carola Bauckholt verfiel der Versuchung, die selbst zusammengestellten Filmbilder instrumental illustrieren zu wollen. In gewohnter Umgebung III vermeidet den Kontrast, indem sich etwa der im Film gezeigte tropfende Wasserhahn im instrumentalen Live-Spiel doppelt. Momente, die sich ästhetisch wunderbar auskosten ließen, werden so ins Banale katapultiert. Zu schnelle Schnitte und ein überstrapaziertes Verhältnis zwischen Bild- und Tonkomposition wogen hier zu Ungunsten eines ästhetischen Fadens.
Wahrnehmungsräume erschließen war Tenor fast aller Aufführungen des Festivals. Begeistern konnte die junge Brass Formation Ensemble Schwerpunkt beim Eröffnungskonzert. Ihr Programm öffnete die Wahrnehmung für ein räumliches Hören und Sehen. Mit Stücken wie Vinko Globokars Discours VII und Peter Eötvös’ Brass – The Metal Space nahmen die Blechbläser den Saal mit auf eine Raum-Forschungs-Expedition, bei der Bewegung und sakrale Momente sich abwechselten, und aufrüttelten. Den öffentlichen Raum erschlossen junge Komponisten der Musikhochschule Hannover: Der Platz der Weltausstellung mitten in der Innenstadt Hannovers war Aufführungsort ihrer Klanginstallationen. Aus zehn Säulen erklangen die Stücke, die sich mit den Straßengeräuschen und dem innerstädtischen Treiben eines späten Freitagabends mischten, und so ein dezentriertes, surreales Klangbild hinterließen.
In mehreren Aufführungen öffneten sich Räume der Kunst, an denen traditionell eher das Sehen im Vordergrund steht. Das Quartett Plus 1 bespielte James Turells’ Lichtrauminstallation im Sprengel Museum. Den Minimal-Klängen durch die Räume folgend, verbanden sich ein erweitertes Sehen und Hören so zu einem Gefühl des unendlichen Raums. Im Kino im Künstlerhaus fand man sich in der wunderbaren Welt des Ensemble L'ART POUR L'ART wieder. Matthias Kaul, Meister ästhetisch inszenierter Alltagsgeräusche, saß zu Tisch mit Astrid Schmeling. Im abgedunkelten Kinosaal konnte man sich auf ein Licht- und Geräuschtheater feinster Art einlassen. Leuchtkörper an Fäden und Blinktaschenlampen gaben bei Manos Tsangaris’ Tafel I – Wiesers Werdetraum den Rhythmus vor. Gespickt von kurzen Text-Dialog-Ausschnitten traten Lämpchen, Flaschen, Fotoblitze und Radiogeräusche aus dem Halbdunkel hervor. Was man hier erleben konnte, war zauberhafte Kleinkunst.
Der Schritt in die Museen und den öffentlichen Raum ist ein gelungener Weg, Neue Musik anderen Kunstsparten gegenüber und einem breiteren Publikum zu öffnen. Und das wurde angenommen: Trotz eines straff organisierten Programms waren die Konzerte gut besucht.
Auch im Herbst geht es interdisziplinär weiter: So plant Musik 21 Niedersachsen unter anderem eine Veranstaltungsreihe zu synästhetischem Wahrnehmen in Kooperation mit dem Kino im Sprengel Hannover. Vorträge, Diskussionen, Live-Performances und Filme wollen sich dann diesem Thema nähern. Beim diesjährigen Festival kam der Austausch mit dem Publikum leider zu kurz. Vor oder nach den Aufführungen könnten moderierte thematische Gespräche manch ungeübtem Festivalbesucher den Zugang erleichtern. Denn „die Lagen dazwischen“ erschließen sich Ohr und Auge nicht immer von selbst.