Sonderlich häufig kommt „Katja Kabanowa“ in Mitteldeutschland nicht zur Aufführung. Das ist unverständlich, denn neben seinen „Abenteuern der Füchsin Bystrouchka“ und „Die Sache Makropulos“ ist auch dieses Spätwerk Leos Janaceks eine der packendsten Opern des frühen 20. Jahrhunderts. Die Landesbühnen Sachsen befinden sich offenbar im Zenit einer Glückssträhne: Nach Previns „Endstation Sehnsucht“, Vollmers „Tschick“ und von Einems „Der Besuch der alten Dame“ wird jetzt „Katja Kabanowa“ in Radebeul zum kleinen Opernwunder, dessen Gelingen auch der Fähigkeit zur Einschätzung eigener Ressourcen und Möglichkeiten zu verdanken ist. Unser Kritiker Roland H. Dippel ist begeistert.
Nur der Anfang gerät etwas matt: Im knappen Vorspiel treten die Figuren auf und stehen starr. Doch die Befürchtung, dass man Janacek mit flachen Arrangements simplifizieren würde, zerstreut sich schnell. Sebastian Ritschel leitete das bis in die kleinste Nebenrolle ideale Ensemble an zu einer überlegt zwischen psychologischem Realismus und Stilisierung ausbalancierten Darstellung. Jede Bewegung hat Sinn. Dazwischen gibt es keine Erklärungsversuche für das, was Janacek ungesagt ließ in seiner Texteinrichtung des Schauspiels „Das Gewitter“ von Alexander Ostrowski, die man hier in der deutschen Übersetzung von Alena Wagnerová und Ute Becker spielt.
Ist Katja Kabanova, die sich als verheiratete Frau in eine kurze leidenschaftliche Liaison stürzt und mit ihrem Selbstmord in der Wolga der Schande, aber vor allem den bedrückenden Verhältnissen entflieht, wirklich eine „russische Madame Bovary“, wie der Kritiker und Janacek-Übersetzer Max Brod nach der Uraufführung im Nationaltheater Brünn 1921 spekulierte? Nein, denn anders als Flauberts Romanfigur Emma leidet Katja nicht an Erlebnismanko, sondern einer zutiefst erniedrigenden Lebenssituation. Katja ist die Zielscheibe der eiskalten Aggressionen ihrer Wohlanständigkeit fordernden Schwiegermutter Kabanicha und des sie schlagenden, in den Alkohol flüchtenden Ehemanns Tichon. Kurz vor Katjas explosiver Selbstanklage streiten der reiche Kaufmann Dikoj und der Lehrer Váňa Kudrjáš darüber, ob Gewitter eine Strafe Gottes oder physikalisches Phänomen seien. Auch darauf gibt die Inszenierung keine Antwort, selbst wenn man am Ende Katjas Leiche in einem Krankenbett hereinfährt. Immer wieder entstehen zarte, anrührende Momente mit einer aus der Verhaltenheit pulsierenden erotischen Energie.
Allgegenwärtig wie in der Musik fließt die Wolga in Projektionen: Während der nächtlichen Liebesszene sieht man wie vom Grund des Flussbetts durch die Wasseroberfläche nach oben auf vorbeiziehende Äste und Baumkronen. Oder das Ufer glimmt in goldenen Herbstfarben, wo in der Oper doch Sommer ist. Das enge Milieu diktiert alles: Stefan Wiel setzt drei sich nach hinten zuspitzende Lattenwände auf die sonst freie Bühnenfläche. Durch breite Ritzen dringt Licht in die freudlose Dunkelgesellschaft. Dieselben geraden Linien in Hell und Dunkel setzt Wiel auf die Kostüme. Katja, die ihr Geständnis im weißen Kleid wie gehäutet herausschleudert, und auch alle Anderen agieren zwischen intimen Geheimnissen und glatter Uniformität. Vom Eros getrieben sind sie mit Ausnahme Tichons, den Kay Frenzel aufwertet, indem er dessen Leidensfähigkeit mehr als seine Labilität in den Vordergrund stellt. Sogar in den Alten pulsiert der noch lange nicht versiegte Lebenssaft. Die bigotte Kabanicha und den drahtigen Dikoj drängt es noch stärker zur Vereinigung als Katja und Boris. Ritschel bremst das vitale Potenzial seiner Sängerdarsteller und hinter der Ruhe spürt man die innere Getriebenheit der Figuren umso deutlicher.
Durchhörbarkeit der Fülle
Ekkehard Klemm gestaltet mit der Elbland Philharmonie mehr melodisch als rhythmisch akzentuiert, ohne Wohlklang-Überdosis: Diese hätte Janacek nicht gewollt. Auch deshalb komponierte er die lange Titelpartie so, dass sich jede noch so perfekte Sängerin in vokale Grenzbereiche vorwagen muss. Durchhörbarkeit der Fülle rückt bei Klemm alle Vorzüge der großartigen Besetzung ins rechte Licht: Die imponierenden Gestaltungsmittel von Paul Gukhoe Song (Dikoj) und Jasmin Etezadzadeh (eine Kabanicha in den problematischen statt in den Matronen-Jahren) bereichern das vokale Dynamit wie Katarzyna Wlodarczyk, die der Varvara einem Mezzosopran von venushaft lockender Fülle leiht. Wie gut Klemm das Janacek-Idiom trifft, zeigt sich an der Besetzung des zwischen Leidenschaft und Flucht zögernden Boris mit Sebastjan Podbregar und Edward Lee als Kudrjáš: Beider nicht sonderlich große Stimmen bleiben über der dichten Instrumentation ohne Überanstrengung fähig zu leiser Deklamation und feiner melodischer Entfaltung. Durch Stephanie Krone wird die Titelpartie sogar neben dieser beträchtlichen sängerischen Konkurrenz zum idealen Fixstern der Aufführung, weil sie Erregung, Leid, Unglück und Unsicherheit mit fast nur kleinen Bewegungen erspielt, Melos und Expression der das hochdramatische Fach streifenden Partie ohne Ängste mit den nötigen Reserven ersingt. Auch hier bestätigt sich die intensive Konzentration der Produktion. Ein überregional konkurrenzfähiger Höhepunkt dieser Spielzeit.
- Janacek: Katja Kabanowa – Wieder am So 09.06.2019, 19:00, Hauptbühne Radebeul – Musikalische Leitung: Ekkehard Klemm – Inszenierung und Licht: Sebastian Ritschel – Ausstattung: Stefan Wiel – Katja Kabanowa: Stephanie Krone – Sawjol Prokofjewitsch Dikoj: Paul Gukhoe Song – Boris Grigorjewitsch: Sebastjan Podbregar – Kabanicha: Jasmin Etezadzadeh a. G. – Tichon:- Kay Frenzel – Váňa Kudrjáš: Edward Lee – ; Warwara: Katarzyna Wlodarczyk – Kuligin- Johannes Leuschner – Glaša: Gundula Ehret – Fekluša: Ausra Pruselaityte – Eine Frau aus dem Volk: Suji Kim – Opernchor der Landesbühnen Sachsen – Elbland Philharmonie Sachsen