Bei Auftritten von Jugendorchestern erwartet man Spontaneität und Spielfreude und nimmt dabei gewisse spieltechnische oder dynamische Unvollkommenheiten gerne in Kauf. Das Young Euro Classic Festival, das den Anspruch erhebt, die besten Jugendorchester der Welt zu präsentieren, bot in diesem Sommer dagegen viel Professionalität und Seriosität. Anstelle der bunten Hemden und Blusen, die man in früheren Jahren auf dem Podium des Berliner Konzerthauses oft sah, dominierten jetzt dunkle Anzüge und lange Kleider. Auch das Bundesjugendorchester trat mit seinen 94 Mitgliedern im Alter von 14 bis 19 Jahren in Schwarz auf. Ein Rest von jugendlichem Übermut zeigte sich höchstens noch in Gestalt des Bär-Maskottchens, das am ersten Pult platziert war.
Hatte dieses Orchester zuletzt mit einem ungewöhnlichen audiovisuellen Programm in Berlin gastiert, so bot es nun klassische Konzertwerke von Bruckner, Messiaen, Mahler und Hindemith. Allerdings hört man Bruckners frühe Ouvertüre in g-Moll, in welcher sich sein Personalstil erst ankündigt, sonst nur selten. Interessant war auch die Gegenüberstellung der vier symphonischen Meditationen „L’Ascension“ von Olivier Messiaen und der Symphonie „Mathis der Maler“ von Paul Hindemith, entstanden doch beide Werke 1934 und entfalten eine je eigene Art altmeisterlicher Religiosität. Hatten die jungen Musiker und Musikerinnen bei Bruckner die Forte-Partien noch recht knallig gespielt, so gelang ihnen bei den übrigen Werken eine viel bessere Klangbalance. Das verdankte sich auch dem Heidelberger GMD Elias Grandy, der für den erkrankten Mario Venzago eingesprungen war. „Hier spielt die Zukunft“ ist das Motto des inzwischen zum 19. Mal stattfindenden Festivals. Das Bundesjugendorchester verkörpert tatsächlich die musikalische Zukunft Deutschlands, stellt es doch den Nachwuchs für die großen deutschen Orchester. So spielen bei den Berliner Philharmonikern nicht weniger als 18 ehemalige BJO-Mitglieder.
Den emotionalen Höhepunkt seines Berliner Auftritts bildeten, auch dank guter Holzbläsersolisten, Mahlers „Kindertotenlieder“ mit der Mezzosopranistin Gerhild Romberger. Andere Jugendorchester wagten sich ebenfalls erfolgreich an anspruchsvolle Konzertwerke heran. So hörte man neben den Beethoven-Sinfonien Nr. 1, 2 und 5 beim diesjährigen YEC-Festival auch die 4. Symphonie von Brahms, „Also sprach Zarathustra“ von Strauss oder die Symphonien Nr. 11 und 14 von Schostakowitsch. Auf dem Programm des Joven Orquesta Nacional de España, des nationalen Jugendorchesters Spaniens, standen „Don Quixote“ von Strauss und das Konzert für Orchester von Bartók. Das 1983 gegründete Orchester, aus dem der Dirigent Pablo Gonzáles ebenso hervorging wie der Cello-Solist Asier Polo, überzeugte durch ein hohes professionelles Niveau. Während bei der vielgestaltigen Strauss-Komposition der große Spannungsbogen noch fehlte, gelang dieser umso schöner in der Elegie des Bartók-Werks.
Das National Youth Orchestra of Canada war bislang noch nie in Europa zu erleben. Bei seinem ersten Gastspiel bei YEC wurde es vom Publikum mit besonders viel Sympathie begrüßt. Viel Beifall gab es, als der Pate Ulrich Deppendorf auf die renommierten kanadischen Musiker Glenn Gould und Oscar Peterson hinwies und auf die gegenwärtige Regierung, die sich wohltuend von den Extravaganzen ihres südlichen Nachbarlandes unterscheide. Kanada ist ein Einwandererland, das vielen Europäern als Modell gilt. Sein nationales Jugendorchester wurde 1960 von dem aus Prag stammenden Dirigenten Walter Susskind gegründet, der seine Heimat nach dem deutschen Einmarsch verließ und über England und Australien nach Kanada kam. Das von ihm initiierte Jugendorchester wurde zu einem wichtigen Grundstock der dortigen Orchesterlandschaft. Etwa 40 Prozent aller Mitglieder kanadischer Orchester spielten einst in diesem Jugendorchester, das nun in großer Besetzung im Berliner Konzerthaus zu erleben war. Sein eindrucksvoller Auftritt endete mit Alexander Skrjabins „Poème de l’extase“, einem Klangrausch, der acht Hörner, fünf Trompeten und eine vierfache Holzbläserbesetzung erforderte.
In noch größerer Besetzung trat das European Union Youth Orchestra an. Seine 120 Mitglieder aus 28 Nationen erforderten auf dem Podium des Konzerthauses so viel Platz, dass sogar die Sonnenblumen-Vasen entfernt werden mussten. Obwohl dieses Flaggschiff der europäischen Jugendorchester angesichts des Brexit seinen Sitz von London nach Italien verlegen musste, wirkten immer noch viele Briten mit, dagegen nur wenige Deutsche. Sehr gut vertreten war Spanien, das auch den Konzertmeister stellte. An Professionalität war dieses einst von Claudio Abbado geleitete Orchester kaum zu übertreffen. Nach dem 2. Klavierkonzert von Chopin mit dem 24-jährigen Solisten Seong-Jin Cho, dem Gewinner des Warschauer Chopin-Wettbewerbs 2015, bildete die Wiedergabe der 5. Symphonie von Tschaikowsky einen beglückenden Höhepunkt, kam es doch unter Gianandrea Noseda hier zu einem großen, klanglich immer gut ausbalancierten Entwicklungsbogen.
Das von Dieter Rexroth künstlerisch geleitete Festival will die jungen Interpreten und das Publikum zur zeitgenössischen Musik hinführen. Bei den drei Ur- und zehn deutschen Erstaufführungen dieses Sommers zeigte sich mehr als sonst eine Tendenz zu programmmusikalischen Werken. So basierte das vom kanadischen Jugendorchester gespielte „Moontides“ von John Estacio auf den extremen Mondtiden des Planeten Erde. Das spanische Jugendorchester präsentierte „Llueven estrellas en el mar“ (Sterne fallen ins Meer) der 1967 geborenen Alicia Diaz de la Funte. In ihrer Erklärung ist von nächtlicher Stille und dem Klang des Wassers die Rede. „Eine verlorene Möwe kreuzt den Horizont und das Licht der Sterne scheint das Wasser zu streifen.“ Das Londoner Jugendorchester Southbank Sinfonia stellte das durch einen Roman von Ivo Andrić inspirierte Klavierkonzert „Between the Skies, the River and the Hills“ der 1980 geborenen Cheryl Frances-Hoad vor und das nach dem Vorbild des BJO gegründete Jugendsymphonieorchester der Ukraine ein „Ukrainisches Gedicht“ für Violine und Orchester, komponiert vom 76-jährigen Jewgen Stankowitsch, dem ehemaligen Dekan am Kiewer Konservatorium.
Mit diesen stilistisch sehr unterschiedlichen Werken wollten die Orchester neben ihrer nationalen Musikkultur nicht zuletzt wohl auch spieltechnische Fähigkeiten, Homogenität und Klangfarben demonstrieren. Die meisten Schöpfer dieser Werke, darunter Altmeister wie Dan Dediu, der Rektor der Universität Bukarest, und der 1945 geborene Neuseeländer Alexander Cowdell, beherrschten souverän ihr Handwerk. Während es bei „Moontides“ zu klanglicher Überfülle kam, wirkte die Komposition Alicia Diaz de la Funtes in ihrem Farbreichtum spannender als die blumige Ankündigung erwarten ließ. Auch bei „Fireworks“ der 1978 in Wroclaw/Breslau geborenen Agata Zubel hob sich das klingende Ergebnis wohltuend vom Programmhefttext ab. Dort hatte die Komponistin angegeben, sie wolle mit ihrem Stück vor allem Lebensfreude vermitteln. Was das European Union Youth Orchestra dann aber hören ließ war eine anspruchsvolle Klangkomposition, die mit ihren motorischen Ostinati an Edgard Varése erinnerte; dessen Komposition „Amériques“ stellte die Polin gleichsam ein europäisches Pendant entgegen. Entsprechend dem Votum einer Publikumsjury wurde sie mit dem Europäischen Komponistenpreis ausgezeichnet.
Die Zentenarien zweier charismatischer Persönlichkeiten bildeten den Rahmen für das diesjährige Festival. Zu Beginn wurde mit dem Auftritt des südafrikanischen MIAGI Youth Orchestra an den 100. Geburtstag von Nelson Mandela erinnert. Zum Abschluss ehrte das Schleswig-Holstein Festival Orchestra seinen Gründer Leonard Bernstein ebenfalls zum 100. Geburtstag. Bernstein hatte das von ihm initiierte Jugendorchester, in dem jährlich 110 Musiker aus aller Welt zu siebenwöchigen Orchesterakademien zusammentreffen, 1987 zum ersten Mal geleitet. Die Patin des Abends, die Intendantin des Rundfunks Berlin-Brandenburg (rbb) Patricia Schlesinger, erinnerte an sein Motto: „Let‘s make music as friends.“ Damit habe Bernstein diesem Orchester einen Geist, einen Spirit, verliehen, der neben dem musikalischen Potential und dem Fleiß seiner einzelnen Mitglieder für das hohe professionelle Gesamtniveau gesorgt habe. Noch etwas war typisch für „Lenny“: seine enorme Fähigkeit, Brücken zu bauen zwischen ernster und unterhaltender Musik. Beispielhaft gelang ihm dies in den Symphonischen Tänzen aus seiner „West Side Story“, welches das Schleswig-Holstein Festival Orchestra jetzt neben Bernsteins symphonischer Suite „On the Waterfront“ und der spritzigen Ouvertüre zu „Candide“ spielte. Dieses immens rhythmisch geprägte Werk, das sechs Perkussionisten erfordert, ist etwa im „Mambo“ immer noch eine spieltechnische Herausforderung, die den jungen Musikern zugleich spürbaren Spaß bereitete. Beim „Mam-bo“-Ruf sprang die ganze Bratschengruppe von ihren Sitzen.
Die immer gut besuchten Konzertabende bei Young Euro Classic sind meist lange Abende. Sie beginnen mit der inzwischen schon etwas abgenutzten Festival-Hymne Iván Fischers und der Ansprache eines prominenten Paten und enden mit Zugaben. Die wohl bewegendste Zugabe brachte das kanadische Jugendorchester, das nach dem Schlussbeifall geschlossen aufstand und auswendig ein Chorstück in französischer Sprache sang; nach stehenden Ovationen folgte noch ein zweites Chorstück auf Englisch, der zweiten Landessprache Kanadas. Beim Schleswig-Holstein Festival Orchestra gab es die große Zugabe schon vor der Pause. Nach dem Violinkonzert von Erich Wolfgang Korngold spielte der junge Solist Charles Yang mit lockerer Perfektion ein Swing-Stück a la Django Reinhardt und konnte dabei allmählich das ganze Orchester zu gemeinsamer Improvisation mitreißen. In einer zweiten Zugabe setzte sich dann auch der Dirigent Wayne Marshall ans Klavier und bot zusammen mit dem Geiger eine Jazznummer. Hohes professionelles Niveau lässt sich also im Geist Leonard Bernsteins durchaus mit Spontaneität und Spielfreude verbinden. Fast alle Konzerte wurden übrigens aufgezeichnet und sind über die ARTE Mediathek noch 30 Tage lang verfügbar.