Arnold Schönbergs „Moses und Aron“, durchgestaltet von Romeo Castellucci und Philippe Jordan an der Opéra Bastille. Frieder Reininghaus berichtet.
Nachdem das Programm der Opéra National de Paris seit einigen Jahren mit Ladenhütern und Produkten aus der zweiten Liga der französischen Provinz bestückt wurde, ist Stéphane Lissner zu Beginn seiner Amtszeit ein markanter Auftakt geglückt – mit Arnold Schönbergs „Moses und Aron“. Für die Opéra Bastille suchte der neue Generaldirektor keine bequeme Lösung. Er bot nicht „Traviata“, „Carmen“ oder „Zauberflöte“ an, sondern eine aus einem Oratorien-Plan erwachsene und am Ende Torso gebliebene musikdramatische Arbeit, die kein unmittelbares Vorbild besitzt (sich allerdings auf verschiedenen Vorarbeiten Schönbergs stützen konnte). Mit Romeo Castellucci setzte Lissner auf einen Regisseur, von dem eine besondere Kunstanstrengung zu erwarten war. Und mit Philippe Jordan auf einen Dirigenten, mit dem das Orchester hörbar gut harmoniert – gerade auch bei einem Tonsatz, der sich nicht mehr auf die am Ende des 19. Jahrhunderts „erweiterte Tonalität“ stützt.
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Die Partitur entstand in der Zeit von Mai 1930 bis Anfang 1932 in Berlin (reagierte mithin auf den anschwellenden gesellschaftlichen Antisemitismus, noch nicht auf die staatlich organisierte Judenverfolgung). Die Uraufführung fand erst nach Schönbergs Emigration und Kriegsende statt – konzertant in Hamburg 1954, szenisch 1957 in Zürich. Das Werk, zu dem sich der Komponist in den 20er Jahren den Text (frei nach dem Buch Exodus) selbst erarbeitet hatte, wurde zunächst für beinahe unrealisierbar gehalten wegen der gewaltigen Anforderungen an die Chöre und der rhythmischen Vertracktheit. In den letzten zwei Jahrzehnten haben freilich mehr als ein Dutzend Opernhäuser unter Beweis gestellt, in welchem Maß sich die technischen Kompetenzen von Chören und Orchestern gesteigert haben – Frankfurt, Leipzig, Nürnberg, Bremen, Stuttgart, Hamburg, Wien, Düsseldorf und Duisburg, die Ruhrtriennale, alle drei Berliner Opernhäuser (dort zuletzt Barrie Kosky im April an der Komischen Oper mit einer weithin unterhaltsamen Lesart). Nun endlich hat auch die Große Oper in Paris nachgezogen – das Théâtre du Châtelet hatte bereits 1995 Herbert Wernickes richtungweisende Frankfurter Produktion übernommen, die sich um ein großes, noch leeres Buch rankte).
Trotz der weitgehenden und vielseitigen Zuwendung ist „Moses und Aron“ ein sperriges Werk geblieben. Es handelt ja nicht nur in der Tradition der Historiendramen des 19. Jahrhunderts vom Mann Moses, der das Volks Israel aus der ägyptischen Gefangenschaft führt. Es erörtert sehr viel weitergehend die Verheißung und Zumutung des „Erwähltseins“ und grundsätzlich die vielschichtigen Entstehungsprobleme der monotheistischen Religion. Sehr gering war zunächst die Zahl derer, die die „alten Götter“ hinter sich lassen und an den einen unsichtbaren, ewigen, allmächtigen und mithin unvorstellbaren Gott glauben wollten. Offensichtlich lassen sich Parallelitäten zwischen dem Sendungsbewusstsein von Moses und dem des Komponisten diagnostizieren. Schönberg beorderte die außerordentlichen Grausamkeiten bei der Herausbildung und Etablierung der mosaischen Religion auf die Bühne: Die Folgen der aus kollektiven Ängsten resultierenden Massenhysterien, Menschenopfer und Selbstopfer, religiös motivierten Mord und die brutal rivalisierenden Interessen der religiösen Führer.
Die beiden großen Kollektive der Pariser Oper stellten unter der Gesamtleitung von Philippe Jordan unter Beweis, wie differenziert und situationsbedingt wohl- oder stark dosiert sie höchsten Ansprüchen gerecht werden. Von fast „kammermusikalischer“ und eleganter Zurücknahme bis zu imposanter Kraftentfaltung stehen alle Mittel zu Gebote: Jordan sorgt für eine präzise und straffe Realisation, zeichnet mit den Bläser-Soli charakteristische Details nach und organisiert die heftigen Entfesselungen der Musik gewordenen Ängste und Hoffnungen mit Umsicht und mitreißender Effektivität. Zur Sprache kommen mit Schönbergs Hauptwerk die singulären Herausforderungen, denen sich die als Propheten auserwählten ungleichen Brüder Moses und Aron stellen müssen. John-Graham Hall als Tenor Aron ist nicht so sehr agil auftrumpfender Stammvater der Medienleute, sondern einer, der die Anstrengungen der Religionsgründung zur einen Hälfte trägt – die öffentlichkeitswirksamen. Thomas Johannes Mayer repräsentiert die andere: Mit dem auf Moses’ Sprechhemmungen verweisenden Sprechgesang einen Propheten voll Selbst- und Gotteszweifeln – eine grandiose Leistung!
… hochgradig kunstsinniger und kunstförmiger Weg …
Beim guten Dutzend Inszenierungen, die sich in den letzten drei Jahrzehnten an Schönbergs Opus magnum abarbeiteten, zeichneten sich drei Linien ab: Neben den Produktionen, die das oratorische Werk mit Motiven aus der politischen und Religionsgeschichte respektvoll illustrierten (wie zum Beispiel Peter Stein in Amsterdam) haben sich Herbert Wernicke, George Tabori zusammen mit Gottfried Pilz in Leipzig oder Willy Decker bei der Ruhrtriennale ernsthaft mit den Fragen der Entstehung der radikal monotheistischen Religion, des unsichtbaren und eigentlich „undenkbaren“ Gottes sowie dem Gebot des Bilderverbots auseinandergesetzt. Regisseure wie Johann Simon (in Bremen), Peter Konwitschny (in Hamburg) oder zuletzt Barrie Kosky schlugen mit agnostischer Chuzpe, einer gewissen blasphemischen Lust und Respektlosigkeit oder dem Willen zum Entertainment beim Allerernstesten zu.
Romeo Castellucci wählte einen eigenständigen, hochgradig kunstsinnigen und kunstförmigen Weg. Ein „Paukenschlag“ war es nicht, was er als Regisseur, Bühnen- und Kostümbildner sowie Licht-Designer mit dem Opernfragment auf den Weg der Anschauung brachte, sondern in erster Linie ein mit vielen Anspielungen und scharfen Brechungen operierendes Ereignis. Das wächst mit großer Ruhe aus einer milchigen Ursuppe heraus. Nur ein Tonbandgerät hängt zunächst vom Bühnenhimmel herab ins weiße Niemandsland und lässt das Magnetband von der Rolle (Aron verwickelt sich später sehr sinnbildlich in den Bandsalat). Wie in dichtem Nebel zeigt sich der kleine Stier, das „Kalb“, erstmals in einem Käfig – erst zur Orgie des zweiten Akts wird das bildschöne ockerfarbene Tier aus der Auvergne aus dem Drahtgehege auf die Bühne geführt und in goldenen Lichtglanz getaucht. Nur schemenhaft zeichnen sich, während der göttliche Auftrag aus dem unsichtbar bleibenden „brennenden Dornbusch“ heraus erteilt wird, hinterm Gazevorhang die Umrisse der weißen Gewänder von Protagonisten und Choristen ab, die Köpfe erst als dunkle Flecken hinterm Gazevorhang, dann zunehmend konturiert. Ja, so ist zu begreifen: Die Anfänge auch der Religionsgeschichte liegen in Nebeln, die sich lichten.
Für Arons Vorführung der Wunder, die das zweifelnde und störrische Volk mit „Zeichen“ überzeugen sollen, senkt sich ein hochmodernes Maschinenteil aus dem Bühnenhimmel herab – ein Gerät, wie es womöglich in der Nuklearmedizin zum Einsatz gelangen könnte. Dann, mit dem ersten Ausblick aufs Gelobte Land, ein Theatererkenntnisblitz: Der weiße Rundhorizont öffnet sich mit einem schmalen waagrechten Spalt und gibt den Blick frei auf viele nackte Leiber, die sich auf nicht eindeutig zu erklärende Weise bewegen. Es mögen Teilnehmer einer Orgie sein – oder auch Todgeweihte.
Zunehmende Heftigkeit entwickelt der zweite Akt beim Tanz ums Goldene Kalb mit einer schwarzen Flüssigkeit, mit dem die überschüttet werden, die zu Tode kommen. Es handelt sich nicht nur symbolisch um Blut, sondern zugleich um Farbe – um Druckerschwärze. Eine ganze Reihe von Chorsolisten müssen in einen Graben tauchen, in dem sich offensichtlich auch diese ominöse schwarze Flüssigkeit befindet. Wenn sie wieder heraussteigen, triefen sie, bekleckern und besudeln die weiße Bühne. Indem sie sich wälzen, stempeln und „bezeichnen“ sie die Fläche. Sie strukturieren chaotisch. Mit Besen und Feudeln wird ein Teil der Schwärze weggewischt. Es erscheinen – wie beim Tiefdruck – schwarz auf weiß große Buchstaben, die allerdings (noch) nicht als sinnvolle Botschaft gelesen werden können. So offenbart sich die im Entstehen begriffene Wort- und Schriftreligion als ein ziemlich dunkler, dann durch einen großen Putzeinsatz wieder aufgehellter Prozess. Mit vieldeutigen Bildern von großer Intensität zu intensitätsreichster Musik ist an der Opéra Bastille wieder ein großer Wurf gelungen: Keine neoreligiöse Kunstbekundung, sondern eher eine kunstfromme, die heutigen Kontroversen um rigide Religiosität aus dem Weg geht.