Bald ist das Vierteljahrhundert erreicht: Zum 22. Mal fand in Stuttgart das Festival Neue Musik statt. Auf dem Programm: 33 Werke, davon 26 Uraufführungen, Instrumentales und Szenisches. Neben den „Altmeistern“ der Neuen Musik, Ligeti, Berio, Kagel, Xenakis, präsentierte sich vor allem die jüngere Generation. Und dann wurde noch rasch eine Diskussion arrangiert, auf der zwei junge Komponisten-Kritiker Gelegenheit finden sollten, ihre provokanten Thesen wider den Neue-Musik-Festival-Betrieb vorzutragen. Den Lesern der nmz waren die kritischen Attacken von Thomas Christoph Heyde und Péter Köszeghy schon zuvor bekannt geworden (siehe nmz 12/01-1/02 und 2/02 sowie die Seite 36). Die Live-Diskussion bot „Insidern“ daher wenig Neues.
Bald ist das Vierteljahrhundert erreicht: Zum 22. Mal fand in Stuttgart das Festival Neue Musik statt. Auf dem Programm: 33 Werke, davon 26 Uraufführungen, Instrumentales und Szenisches. Neben den „Altmeistern“ der Neuen Musik, Ligeti, Berio, Kagel, Xenakis, präsentierte sich vor allem die jüngere Generation. Und dann wurde noch rasch eine Diskussion arrangiert, auf der zwei junge Komponisten-Kritiker Gelegenheit finden sollten, ihre provokanten Thesen wider den Neue-Musik-Festival-Betrieb vorzutragen. Den Lesern der nmz waren die kritischen Attacken von Thomas Christoph Heyde und Péter Köszeghy schon zuvor bekannt geworden (siehe nmz 12/01-1/02 und 2/02 sowie die Seite 36). Die Live-Diskussion bot „Insidern“ daher wenig Neues. Die Gesprächsrunde, geführt vom Festival-Leiter Hans-Peter Jahn, erschöpfte sich schnell in der Wiederholung schon vorgetragener Behauptungen, die durch die Repetition nicht schlüssiger wurden. Heydes und Köszeghys Kritik schien eher durch einige maulige Zeitungsartikel zu den letztjährigen Donaueschinger Musiktagen hervorgerufen worden zu sein, als durch gründliche eigene Anschauung. Außerdem erscheint die Fokussierung der Polemik auf Donaueschingen zu eindimensional, um mit ihr das ganze System der Neue-Musik-Treffen aushebeln zu können. Wer regelmäßig und ausführlich allein nur die Festivals im engeren geografischen Raum nimmt, also Donaueschingen, die Tage neuer Kammermusik in Witten, Stuttgarts „Éclat“ oder die umfangreiche und vielgestaltige „Musica“ in Straßburg, der kann doch nicht allen Ernstes behaupten wollen, da würden nur die „ollen ästhetischen Kamellen“ von den immer gleichen Avantgarde-Großvätern gespielt.So wirkt die ganze Diskussion irgendwie vor allem als eine Beschwerdeinstanz für junge Komponisten, die, aus was für Gründen auch immer, sich für ausgeschlossen vom Betrieb halten. Wobei Heyde und Köszeghy in einer Art psychischem Selbstschutz mit äußerster Hartnäckigkeit vortragen, dass sie der Festivalbetrieb persönlich überhaupt nicht interessiere.
Natürlich muss es gestattet sein, von Fall zu Fall über das, was da so Jahr für Jahr abläuft, einmal kritisch und innovativ nachzudenken. Dabei wäre aber mehr zu bedenken, als nur der Wunsch junger Komponisten, endlich auch einmal mit ihren mehr oder weniger neuen Ideen zum Zuge zu kommen. Für die Präsentation von Fingerübungen stehen andere Einrichtungen als die renommierten Festivalorte bereit. Es gibt Institutionen, wie etwa das Ensemble Modern oder das Klangforum Wien, die regelmäßig Arbeitsphasen veranstalten, in denen die neuen Stücke junger Komponisten von den erfahrenen Musikern einstudiert und dabei zugleich verbessert werden. Ästhetische Innovationen sind dabei nicht ausgeschlossen, vielmehr sogar erwünscht. Eine derartige Kooperation zwischen Komponist und praktizierendem Musiker ist für den jungen Komponisten sicher wertvoller und produktiver als die einmalige Aufführung auf einem Festival.
Man darf diese Festivals auch nicht überfordern, allein schon quantitativ nicht. Die Ausbildungsstätten „produzieren“ inzwischen Komponisten in einer zahlenmäßigen Größenordnung, die nur als bedenklich bezeichnet werden kann. Auch das kam in der Diskussion in Stuttgart zur Sprache. Anderes wiederum wurde überhaupt nicht angeschnitten. Auch für ein Uraufführungsfestival stellen sich bei der Auswahl von Komponisten und Werken Qualitätsfragen. Die Autonomie des einzelnen Werkes ist zu beachten. Es stellt ästhetische Ansprüche und Forderungen nach einer adäquaten Darstellung gleichsam aus sich selbst. Das verständliche Verlangen junger Komponisten, auch einmal zu Wort und Ton zu kommen, hat dahinter zurückzutreten, das heißt: Auch die neuesten und experimentellsten Erfindungen müssen sich diesem Anspruch stellen. Ein Festival für neue Musik soll offen sein auch für ungewöhnliche Neuheiten, aber es darf die künstlerische Qualität dieser Novitäten nicht gänzlich außer Acht lassen: Ein Musiktreffen der Neuen Musik ist keine Frühjahrsmesse für Gebrauchsgüter, sondern formuliert seine ästhetischen Ansprüche aus seinem eigenen Selbstverständnis und aus seiner Dramaturgie.
Und schließlich die „Alten“, die den beiden Protestierern ein besonderes Ärgernis zu sein scheinen. Viele der heute renommierten Komponisten wurden einst als ebenfalls junge Komponisten auf Festivals der Neuen Musik entdeckt. Es gehört zu den Aufgaben eines Festivals, die Entwicklung dieser Komponisten auch weiterhin zu verfolgen, ihre neuen Stücke zu präsentieren, sie zu neuen Werken anzuregen, sich mit neuen Kompositionen in die Diskussionen auf einem Musikfestival einzubringen. Das interessiert auch das Publikum, dessen Ambitionen auf einem Musica-Nova-Festival nicht gänzlich unbeachtet bleiben sollten.
Das Thema der Stuttgarter Diskussion: „Man ist einfach zu faul zu suchen“ fiel insofern auf die Veranstaltung selbst zurück, weil der Kreis zum Thema Festivals Neuer Musik nur unvollständig ausgeschritten wurde. Hans-Peter Jahn durfte gleichwohl zufrieden sein, gab er mit seinem „Éclat 2002“ auf die Vorwürfe doch die treffende Antwort. Jahn ist kein Esoteriker, der abgekapselt in seinem Rundfunkbüro sitzt und sich besonders schöne esoterische Programme ausdenkt. Er animiert vielmehr andere Institutionen, beim Éclat-Festival mitzuwirken, eigene Programme einzubringen. So eröffnete ein Konzert der Akademie Schloss Solitude in Zusammenarbeit mit dem SWR-Vokalensemble das Festival mit Uraufführungen von Eliav Brand, Hector Moros, einer Performance von Maren Strack sowie Werken von Ligeti (alt), Martin Smolka und Oscar Strasnoy. Und den Beschluss der sechstägigen Veranstaltungsreihe bildete eine Gemeinschaftsarbeit von Éclat, Stuttgarter Musikhochschule und Südwestrundfunk, die unter dem Titel „Parade” ein „Musiktheater auf dem Laufsteg” komponierte, einen „Auf- und Durchmarsch” verschiedenster Klangquellen, personifiziert und in Bewegung gesetzt, wie in Oliver Fricks „Vereinsmusikkapelle”, Jens Schroths „parade” für Piccoloflöte und Trompete, Ulrich Süßes „Durchführung” für zwei Tänzerinnen und Medium oder Jürgen Palmers „grau” für Mann mit Hund und sieben Kinder. Da war sie doch, die Einbeziehung neuer Formen musikalischer Darbietung, von jungen Musikern und Komponisten frisch erdacht und umgesetzt.
Das Szenische nimmt beim Éclat-Festival seit langem schon eine wichtige Position ein. In Zeiten musikalischer Nicht-Erziehung an unseren Schulen ist es um so verdienstvoller, wenn sich ein Neue-Musik-Festival für ein qualitätvolles Kindermusiktheater engagiert. In den letzten Jahren gab es dazu in Stuttgart einige wunderschöne Produktionen zu bewundern, von denen man gern einmal erfahren würde, ob diese Aufführungen auch an anderen Orten gezeigt werden konnten. Diesmal hatte der Amerikaner Jerry Willingham den Auftrag für ein Musiktheater für Erwachsene und Kinder ab sieben Jahren erhalten: „Engelangeln” heißt es. Eine Schauspielerin (gewandt und kontaktfreudig) findet ein altes Dokument, in dem ein afrikanischer Hirte, eine bayerische Putzfrau, ein alter Seemann, ein amerikanisches Girl und weitere Personen über ihre Erlebnisse beim Engelangeln berichten. Es ist ein fantasievoll erdachtes Nachdenken und Plaudern über unsere alte Mutter Erde, von der wir alle den Eindruck haben, dass sie allmählich ein wenig müde durch den Weltraum torkelt und für die wir deshalb eine Ersatzerde benötigen. Die Musik, für Violoncello und Schlagzeug, verbindet die Geschichten mit gegenwärtigen und (vielleicht?) zukünftigen Klangerfindungen. Gern hätte man von ihr noch mehr vernommen, eine dichtere Struktur zwischen Klingendem und Gesprochenem. Das ließe sich vielleicht noch für weitere Aufführungen nachholen.
In den Tiefen der verlassenen Seele forscht dagegen Sidney Corbett in seiner Kammeroper in drei Bildern, der er den lapidaren Titel „X und Y” gab. Man könnte das Werk auch „Corbetts Erwartung” nennen, gewisse Parallelen zu Schönbergs Einakter drängen sich förmlich auf. Eine Frau imaginiert sich einen Mann, einen fernen Geliebten, der nicht erscheint, weil er nur in ihrer erregten Fantasie existiert. Anja Tuckermann schrieb die etwas weitschweifigen Texte einer Seelenerkundung, die Corbett auf eine Schauspielerin und eine Sängerin verteilt. Ute Döring singt das souverän, mischt sich gelegentlich auch ins Spiel der Schauspielerin Daniela Burkhardt, so die Gespaltenheit der Existenz noch unterstreichend.
Seth Josel entlockt seinem GitarrenInstrumentarium (noch mit Tenorbanjo, Mandoline, Mundharmonika) faszinierende Klanggespinste, die die psychische Tiefenlotung auf ihre Weise betreiben und intensivieren. Ein ambitioniertes Stück, das Alejandro Stadler mit ruhiger Hand und gestisch-mimischer Genauigkeit perfekt inszenierte.
Szenisches drang immer wieder auch in die Konzerte ein: Virtuos bei Berios „a-ronne” (1975), das in Stuttgart in einer neuen Fassung für sechs Vokalisten eine weitere Uraufführung erlebte. Der Choreograf Marco Santi übersetzte mit den großartigen „Neuen Vocalsolisten” die singenden und sprechenden „Klangkörper” der Solisten in raumgreifende Spielaktionen von ungeheurem „Drive” und präzisester Gestik. Das ist in der Verschmelzung von physischen und vokalen Aktionen von zeitloser Modernität.
Im selben Konzert erklangen auch Werke von Mahnkopf, York Höller, Alan Hilario und Jörg Birkenkötter (Drei Sätze und Coda für Bariton-Saxophon, Schlagzeug und Klavier). Claus-Steffen Mahnkopfs „Deconstructing Accordion“ verpflichtet den Solisten (Teodoro Anzellotti) zeitgleich zum Spielen zu strengen, quasi zwanghaften körperlichen und gestischen Motionen: Eine Musik-Körper-Psycho-Studie, die Koinzidenzen zwischen diesen Elementen plastisch aufzeigt. Höllers „Trias“ für Alt-Saxophon, Schlagzeug und Klavier ist ein fein ausgehörtes Spiel mit Klanggestalten und von hoher formaler Disziplin. Birkenkötter schafft aus beabsichtigter komponierter „Unordnung“ und segmentierenden „Schnitten“ ungewöhnliche, fast verdächtig „schöne“ Klangpunkte mit großer Innenspannung.
Zur Szene wurden auch andere Konzerte: Der Posaunist Mike Svoboda nahm sich mit seinem Instrument, außerdem mit Stimme, Mundharmonika und Megafon sowie drei weiteren musizierenden Kombattanten (Scott Roller, Wolfgang Fernow, Michael Kiedaisch) des Komponisten Richard Wagner an. Titel: „Richard Wagner: Adult Entertainment oder 14 Versuche, ihn lieben zu lernen“.
Svoboda fantasiert, improvisiert, textet sich, verbündet mit den Klängen von Neuer Musik, Rock, Klassik, durch einige Stücke des Bayreuther Meisters. Was Svoboda will: Zeigen, dass Wagner nichts anderes ist als Unterhaltung für Erwachsene. Das haben vor ihm schon andere betrieben. Immerhin geht’s bei Svoboda nicht nur unterhaltsam, sondern auch intelligent zu.
Das Éclat-Festival bietet auch den Rahmen für die Verleihung der Kompositionspreise der Landeshauptstadt Stuttgart: Diesmal erhielten Sebastian Claren („Fehlstart“ für Flöte, Klarinette, Klavier, Schlagzeug, Violine und Cello) und Enno Poppe ( „Knochen“, für großes Ensemble) die Auszeichnung. Ihre Werke wurden vom Ensemble Modern, zusammen mit Kompositionen von Andreas Dohmen, Mark Randall Osborn und Emmanuel Nunes, unter der souveränen Leitung Stefan Asburys uraufgeführt.
Das Éclat-Festival bietet auch das: Das reine instrumentale Werk von alten neuen und neuen neuen Komponisten.