Ihre Barockopern-Reihe hat die Berliner Staatsoper im Schiller Theater nach Philipp Telemanns „Orpheus“ und „Der geduldige Sokrates“ nun mit einer dritten Ausgrabung dieses Komponisten fortgesetzt. Durch die Akademie für Alte Musik unter René Jacobs trefflich interpretiert, und von der jungen Regisseurin Eva-Maria Höckmayr vor einem brennenden Baum als zeitübergreifende Nachkriegshandlung umgesetzt, brachte der trotz massiver Kürzungen fast vierstündige Abend einen vollen Erfolg für die erst vor gut 40 Jahren wiederentdeckte Partitur.
Das Auftragswerk zum 50-jährigen Bestehen der Hamburger Oper am Gänsemarkt im Jahre 1728 erzählt von der unstandesgemäßen Liebesbeziehung zwischen Emma, der Tochter Kaiser Karls des Großen, und dessen Geheimschreiber Eginhard. Als Höhepunkt der Handlung um drei Liebespaare, trägt Emma ihren Geliebten durch den Schnee, damit nicht dessen Fußspuren ihn verraten. Doppeldeutig hierauf Bezug nimmt der komplette Titel der Oper, „Emma und Eginhard oder Die Last-Tragende Liebe“.
Fünfzig Arien und Duette sowie vier Ballette umfasst die komplette Partitur in einer Mixtur von gehobenem Stil mit kunstvollen Koloraturen und derb-komischen Elementen, wie sie in der Tradition der Hamburger Bürgeroper beliebt waren. So gibt es als Mittler zwischen Bühne und Publikum einen Kommentator, dem die Regisseurin allerdings den Witz ausgetrieben hat, indem sie ihn zu einem Alter Ego des Kaisers macht: Steffen (Johannes Chum) ist mal eine heutige Polit-Charge im schwarzen Anzug und ein andermal übernimmt er vom Kaiser dessen Attribute und wird zu so einer Art von Volkskaiser, und wenn er seine Hosen fallen lässt, trägt er darunter ein Harlekinstrikot.
Im Bühnenbild von Nina von Essen auf der Drehscheibe werden alle ständig belauscht, und insbesondere Kaiser Karl ist hier in erster Linie ein Voyeur, der durch Spiegelwände das Intimleben seines Hofes beobachtet. Erst als er den Betrugsversuch seiner Tochter in freier Natur, im Schnee erlebt, fühlt er sich zu Konsequenzen aufgefordert und will die Liebenden hinrichten lassen. Obgleich er seiner herrschsüchtigen Gemahlin Fastrath (Katharina Kammerloher) die ihn zum Bestrafungsakt anfeuert, in Hörigkeit verfallen ist, siegt schließlich – wie bei Mozarts „Titus“ – auch hier die Milde des Kaisers. Dies bewirkt zunächst eine Stimme Gottes (Jan Martinik), und am Ende dieser sehr menschlichen Handlung vor dem Hintergrund des gerade beendeten 30-jährigen Krieges singt gar noch ein leibhaftiger Amor, dass er das glückliche Ende zu Wege gebracht hat. In diese Rolle schlüpft Narine Yeghiyan, die als Zofe Barbara für eigene Farben sorgt und sich als Liebesbriefträgerin durch die Kamine kriechend von Schlafzimmer zu Schlafzimmer bewegt, aber notgedrungen beim Schlussgesang von einer Puppe doubeln lassen muss.
Zunächst kommt die Handlung schwer in die Gänge, obgleich das auch in Übertiteln und im Libretto im Programmbuch gut lesbare Deutsch des Librettisten Christoph Gottlieb Wend keineswegs antiquiert klingt und noch echte Lacher auszulösen vermag. Dass die zumeist textverständlichen Solisten so uneinheitlich mit der Aussprache des Diminutivs „gen“ („Häsgen“, „Kätzgen“) umgehen, wirf ein fragwürdiges Licht auf die ansonsten präzise musikalische Einstudierung.
Von Regie und musikalischer Leitung ist durch frühe Abgänge und überlappende Einsätze der nachfolgenden Rezitative ein möglichst ununterbrochener der Musik-Fluss intendiert. Dennoch setzte sich häufig das Barockopern-Publikum mit Applaussalven, unmittelbar nach den Arien, durch.
Jene Besucher, die den trotz zwölf gestrichener Arien und der umfangreichen Ballette immer noch langen Premierenabend bereits in der Pause verließen, haben die echte musikalisch-dramatische Steigerung im zweiten Teil verpasst.
Mit Schneefall, einem am Flugwerk aufschwebenden Liebespaar-Double und einem Kind mit Puppe am Buckel, die Emmas Tragen der Liebeslast übersetzt, einem dem Bett entwachsenden kindlichen Amor-Double sowie mit verschobenen Leuchtbuchstaben („LIEBES-ABC“/ „LEIBES-ABC“) wird die Inszenierung zwar noch beliebiger. Und im Bühnenhintergrund sitzt ein zweites, mit kommentierendem Applaus die Handlung begleitendes Publikum auf Staatsopern-Gestühl.
Aber Telemanns dichter, protestantischer Barockopernstil gewinnt immer mehr an Verinnerlichung. Großflächigkeit und elegische Duette nehmen den Zuhörer gefangen, und die eigens für diese Aufführung nachgebaute Traversflöte (Christoph Huntgeburth) fasziniert mit meditativen, traumhaft schönen Sequenzen.
Stark in seinem Hin- und Hergerissensein ist Gyula Orendt als Kaiser. Mit charakteristischer Stimmführung gefällt Stephan Rügamer als Wolrad, auch das Liebespaar Stephanie Atanasow als Heswin und Sylvia Schwartz als Hildegard sorgt für eigene Farben zum Thema Liebe, Lust und Ehe vor dem Kriegshintergrund.
Der dem historischen Verfasser der Karls-Vita, Einhard, in der Liebe zur Kaiserstochter nachempfundene Geheimschreiber Eginhard wird von Nikolay Borchev, wenn auch mit schwerem S- und Z-Fehler, trefflich gesungen. Eine makellose Leistung bringt hingegen Robin Johanssen als eine in höchsten Koloraturen noch mit deutlichen Farbnuancierungen aufwartende, überaus liebliche Emma.
Fazit: Eine hörenswerte Pretiose aus dem umfangreichen Oeuvre des Hamburger Komponisten.
- Weitere Vorstellungen am 29. April, 2., 8. und 10. Mai