Der Vorhang musste ausgerechnet in der letzten Strophe des Couplets von „Klein-Zack“ zugehen: ein Drittteil der bühnengroßen Treppe blockierte und hätte die Verwandlung von Luthers Weinkeller hin zur Showtreppe für die von Hoffmann erneut herbeibeschworene Stella nicht ermöglicht. Nach zehn Minuten Pause wiederholte der schwedische Tenor Daniel Johansson diesen schwelgerischen, vokal fordernden Ausbruch, hob die emotionale Spannungskurve damit gekonnt auf das vorherige Niveau – und war über seine blendende Bühnenerscheinung hinaus dennoch bis zu seinem bitteren Ende ein stimmlich beeindruckender Sänger-Dichter.
Das konnte für den außergewöhnlichen Rang des ganzen Abends stehen: die gesamte Technik, der vielfach solistisch geführte Chor (Einstudierung: Lukáš Vasilek) und alle Solisten waren bis an ihre Leistungsgrenzen gefordert. Denn es ging nicht nur um raffinierte Spielzüge. Hoffmann fragt sich ja, ob er das „Spielzeug eines Traumes“ sei. Daraus entwickelte Regisseur Stefan Herheim ein „Bewusstseinsstrom“-Theater, in dem Realität, Erinnerung, Sehnsuchtsvision, Alptraum, Hoffnung und Scheitern sich wie in einem trans- und poli-sexuellen Rausch-Traum durchdringen.
Rasante Bühnenaktionen
„Buh! Das hat nichts mit Offenbach zu tun!“ schallte es nach wenigen Minuten aus der ersten Reihe des Parketts, ein reifer Mann stand wütend auf, enterte die Bühne und forderte die echte „phantastische Oper“ von Jacques Offenbach: dafür verwandelte er sich in den Rat Lindorf – es war Bariton Michael Volle als durchgängig wuchtiger Widerpart Hoffmanns. Er wie sein Gegenpart, die reizvolle Muse von Rachel Frenkel, bespielten mehrfach das Parkett. Und dann: rasante Bühnenaktionen; die sich zu immer neuen Räumen und einem Rialto-Imitat auffaltende Treppe von Christof Hetzer; Projektionen auf seitlichen Vorhängen und die szenisch ergänzenden Videos auf dem schwenkbaren Bühnenhimmel (technisch perfekt vom „Fettfilm“-Team) samt einem Jacques Offenbach (glänzend parodistisch Christophe Mortagne), der mit seinem Cello hereinkam, vielfach mit seiner wundersam mächtigen Komponier-Feder dirigierte und auch alle Dienerrollen übernahm – all das und vieles, vieles mehr – bis hin zu den stupenden, Geschlechtergrenzen auflösenden Kostümwechseln von Esther Bialas - ergab einen Eindruck von überwältigendem Totaltheater.
Das gelang auch, weil der aus seinen Frankfurter Jahren zum Musiktheater-Dirigenten gereifte Johannes Debus mit den romantisch üppig aufspielenden Wiener Symphonikern all dies mittrug. Er war sich mit Herheim einig, dass auch nach vielen Notenfunden nicht feststeht, wie Offenbach selbst den letzten Akt vollendet hätte. Beide und Dramaturg Olaf Schmidt entschlossen sich, aus der wilden Aufführungsgeschichte die vom Publikum erwarteten Nummern hereinzunehmen: das 1904 in Monte-Carlo eingefügte Septett mit Chor, auch die 1905 in Berlin hereingenommene „Spiegel-Arie“, die beide nicht von Offenbach stammen. Daraus wurde eine theatralische Konfrontation an der Rampe mit den Klischee-Erwartungen des Publikums vom „reifenden Künstler“ – wogegen der „erzählte Erzähler“ Hoffmann im Venedig-Akt ja Kontrolle und Ich-Bewusstsein verliert. Alle seine Träume wurden als ruinöser Schein entlarvt: die Glitzerwelt des Cabarets um Stella (frappierend als stumme Drag-Queen und Transvestit Pär Karlsson), das Koloraturen produzierende Society-Püppchen Olympia (brillant Kerstin Avemo), der tödliche Ruhm des Gesangsstars Antonia (schwelgerisch strahlend Mandy Fredrich), die rettende Kraft der Kunst in Person der Muse – letztere drei flossen im gleichen Glitter-Abendkleid und Blond-Perücke zum wahnhaft enttäuschenden, weil nicht wirklich existierenden Triple-Sex-Star Giulietta zusammen.
„Groß durch die Liebe, doch größer noch durch Leid“
Doch ihre Botschaft an den durch Ich-Verlust und einen Selbstmord-Messerstich wie scheintot wirkenden Hoffmann und das dennoch nach all diesen „liebgewonnenen, schönen Figuren“ gierende Publikum lautete: „Groß durch die Liebe, doch größer noch durch Leid“ – Offenbachs Aussage „Das ist keine opéra comique, sondern ein ernstes Werk, absolut tragisch“ war erfüllt. Stumme Überwältigung, dann Jubelstürme und stehende Ovationen, gewürzt mit wenig Buh. Ein fulminanter Festspielabend, der zu mehrfachem Besuch herausfordert.