Wolf-Dieter Peter hat sich in Frankfurt einer Opern-Premiere hingegeben, die er für Faust-Preis-verdächtig hält. Die Aufführung von Delius‘„A Village Romeo and Juliet“ sei gewesen „eine fast zu Tränen, zumindest human tief anrührende Verdichtung von Liebesglück und Liebestod in 100 Minuten fabelhaften Theaterzaubers, fließend in Zeit und Raum und Freud und Leid und Tod und …“
Der Theatervisionär Richard Wagner beschrieb den Weg zum erlösenden Gral mit „Zum Raum wird hier die Zeit“. Daran, aber auch an Marcels Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen…“ und „Die wiedergefundene Zeit“ musste gedacht werden … und auch an die “stream-of-conciuosness“-Technik, mit der James Joyce ganze Leben in einen Tag verdichtet. Denn gleich zu den ersten Tönen der schier endlos strömenden Musik des opernweit unterschätzten Frederick Delius (1862–1934) gab der Vorhang den Blick frei auf ein junges Paar: er hingesunken auf den Tisch, sie seine Hand haltend und dann auch hinsinkend – am Ende wird klar: es ist Salis und Vrenis Sterbeszene – doch jetzt drehte ein großer Innenhof heran und da tollten zwei kleine Kinder in Hochzeitskleidung inmitten der anderen – wenig später sangen ein Knabe und ein junges Mädchen von Waldspaziergang, Prinzessin, Riesen und rettendem Ritter – und nur einen kleinen Dreh weiter im anderen Raum standen sich die beiden als Jugendliche halb scheu, halb zärtlich zugewandt gegenüber – während im Nachbarraum ein Greisenpaar in Hochzeitskostüm tanzte … mit weiteren Gedankenstrichen ließe sich im Fluss der Sätze der Fluss der Zeit wie der Gefühle im fließenden Übergang der Szenen und der Räume ein wenig abbilden.
Nur ein wenig, denn was der jungen Regisseurin Eva-Maria Höckmayr und Bühnenzauberer Christian Schmidt da mit dem sechsfachen Paar auf der riesigen, zweifach asymmetrischen Drehbühne der Frankfurter Oper gelungen ist, waren eine fast zu Tränen, zumindest human tief anrührende Verdichtung von Liebesglück und Liebestod in 100 Minuten fabelhaften Theaterzaubers, fließend in Zeit und Raum und Freud und Leid und Tod und…
Frederick Delius’ Vertonung der Gottfried Keller-Novelle „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ steht zwischen Spätromantik und Moderne. Mehr als die dramatischen Gipfel (Sali verwundet den rohen Vater Vrenis; die rigid konservative Dorfgemeinde verstößt das junge Liebespaar) hat Delius in farbenreich strömendem Melos die zarten Gefühle, die scheue Liebe und das kleine Glück gestaltet – alles durchzogen von Melancholie und der Hinnahme des „Es wird nimmer, nimmer wieder gut“. Das dirigierte Paul Daniel feinsinnig und klangschön, das Frankfurter Museumsorchester spielte herrlich, die Chor-Einwürfe besaßen die mal ausmalende, mal kantig schroffe Kontur. Diese Klangwellen durchzogen die gleichsam als „Lebensfilm“ ablaufende Handlung im einleitend gezeigten Selbstmord des jungen Liebespaares. Zwei aufgeschnittene Hausteile glitten immer wieder aneinander vorbei, herein und heraus. Durch Treppenhäuser, viele Türen und immer wieder durch die offenen Fenster sahen, begegneten, flohen und suchten sich die Liebenden, wechselnd durch alle Lebensalter. Die realen Räume bekamen so etwas Irreales, nur Imaginiertes, gipfelnd eben in der Vision, sich trotz des Todes in der Jugend auch als altes Hochzeitspaar zu „erleben“.
Passend dazu wechselte das kleine Viereck grüner Natur im hereindrehenden Hallenraum die Zeiten und Phasen: mal schneebedeckt, mal blühend war der Baum kahl, klein oder hochgewachsen. Die heikelste Szene geriet zum Höhepunkt, Vrenis und Salis Nacht im „Paradiesgarten“: Das Glück ihrer Liebe ließ den Hintergrundprospekt mit Himmel, Fluss und Baum auf dem Kopf stehen – und von der fraulich sensiblen Regie dezent geführt, zog sich das Statistenpaar der „jungen Vreni und Sali“ ins „Adam-und-Eva-Kostüm“ aus und ging nach süßen, zarten Küssen strahlend wie auf Wolken auf uns zu – Blackout: einfach, überwältigend, unvergesslich. All diese Szenen durchtanzte mit mal anklagendem, mal „ins Freie“ lockenden Bariton der Spielmann von Johannes Martin Kränzle, gut kontrastierend zu den streitenden Vätern von Dietrich Volle und Magnus Baldvinsson. Jussi Myllys Sali-Tenor und Amanda Majeskis Vreni-Sopran bezauberten mit Innigkeit, Süße und kurz auflodernder Glut, am Ende beseelt den Tod annehmend, weil Gerechtigkeit und Glück im Wirbel von Gesetz und Gesellschaftsordnung keinen Platz haben. Jubelstürme für ein tönendes „Be-Denk-Mal“ auf dem Theater.