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Screenshot aus: Jenn Kirbys „Dichotomies of Lockdown“.
Screenshot aus: Jenn Kirbys „Dichotomies of Lockdown“.
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Lockdown-Krisen und Blessuren: „20 Shots of Opera“ der Irish National Opera

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„20 Shots of Opera“ ist eine der bemerkenswertesten Produktionen des internationalen Musiktheaters während der beiden Lockdowns: 20 Minutenopern mit anspruchsvollen Sujets als Video on Demand. Die emotionalen und kritischen Opernclips der Irish National Opera entstanden im Herbst 2020 mit insgesamt 160 Mitwirkenden.

Untermenüs auf der Website bieten Blöcke zu den Themen „political“, „life and death“, „drama“ und „relationships“, ein Feld zur „keyworld research“ befindet sich darüber. Der Dokumentarcharakter ist Absicht, die Emotionalität nimmt durch sachliche Kühle und artifizielle Gestaltung sogar zu. Zur Darstellung gelangen unschöne Zivilisationsphänomene, aber auch Herausforderungen, Ängste und Klagen über wesentliche Versäumnisse. Meistens ist die Spieldauer für eine konstruktive Lösung allerdings zu gering. Dieser Pessimismus zeigt sich mit beeindruckendem dramatischen und filmtechnischen Abwechslungsreichtum.

Das Erstaunliche an diesen 20 Werken, die im Auftrag der Irish National Operar entstanden, ist nicht nur, wie viel Aktion und Nachdenklichkeit sich in einem Vokalstück mit Miniorchester von maximal neun Minuten Dauer unterbringen lassen, sondern auch die Mannigfaltigkeit der Sujets und ihrer Realisierungen. Dabei erfüllen die Kameras meist eine sinnfällige dramaturgische Funktion.

Immer stehen fragende, verstörte, von Gefühlen attackierte, ratlose Menschen im Mittelpunkt. Aber nur in drei Opern geht es explizit um Covid-19: Eine an Corona erkrankte Frau stöhnt, seufzt und stammelt, bis eine Plastikhülle ihre Leiche umschließt. Die Kamera hängt über dem Körper auf dem fahrbaren Klinikbett. Der Komponist Andrew Milton verwendete in „Erth upon Erth“ die Verse auf dem Wandbild „Allegorie des Todes“ in der Guild Chapel in Stratford-upon-Avon. Jenn Kirbys „Dichotomies of Lockdown“ zeigt in sieben Momentaufnahmen die Beziehungsdynamik eines Paares in der Isolation. Erst beobachten Sie und Er einen Wurm an einem Apfel, dann greifen sie zum Desinfektionsmittel. Mit diesem sterilisieren sie auch gleich ihren Kleingarten. Das Paar rückt (nicht ganz unfreiwillig) auseinander und polemisiert gegen jene, welche es mit Befolgung der öffentlichen Vorschriften nicht so genau nehmen wie es selbst. Der Rest des Mini-Ehedramas ist Schweigen, weil beide sich voneinander ab- und ihren Smartfons umso konzentrierter zuwenden.

Überhaupt ist der Apfel ein wichtiges Symbol: Peter Faheys adaptierte in „Through and Through“ das Märchen vom Machandelboom zu einer retro-gotischen Alptraumszene für Sopran. Auf dem Bein einer Frau rinnt Blut. In „Ghost Apple“ von Irene Buckley und Jessica Traynor diagnostiziert eine Wissenschaftlerin im Labor Zusammenhänge zwischen dem Eindringen von Plastikpartikeln in das gesamte Ökosystem und dem Phänomen der Geisteräpfel. Natürlich ist das silberne Apple-Logo auf ihrem Computer deutlich zu erkennen. Die unausweichliche Klimakatastrophe und die Machtlosigkeit des Einzelnen stehen am nüchternen Ende dieser Science Opera. Eine sangliche und dabei den Text akzentuierende Tonsprache in der Tradition Brittens kontrastiert zum Inhalt.

Mehrere Opern thematisieren wie „Through and Through“ gleich mehrere gesellschaftliche Kollektivgeschwüre. Eine oft distinguierte Haltung verhindert das Abgleiten in Betroffenheitskitsch. Auch das ist eine Leistung: Die nie überhitzte, dabei immer prägnante Darstellung direkter und indirekter Blessuren durch die Pandemie.

Diese „20 Shots of Opera“ demonstrieren multiperspektivische Breite. Gleichzeitig markiert dieser Zyklus die Weiterentwicklung der Kunstform Oper. Miniformate sind seit Darius Milhauds drei ‚Opéra Minutes‘ nicht mehr ganz ungewöhnlich. Von Boris Blachers „Abstrakte Oper Nr. 1“ über Menottis Fernsehoper „Amahl und die nächtlichen Besucher“ und Mauricio Kagel bis zu Alexander Strauchs Schaufenster-/Kontaktanzeigen-Performance „Von Innen nach Außen“ reichen Versuche mit neuen Kurzformen an spezifischen physischen und virtuellen Orten. „20 Shots of Opera“ ist der Durchbruch des Musiktheaters in die dramaturgisch funktionalisierte Digitalität. Wahrscheinlich würde ein Großteil der Stücke bei einer physisch-theatralen Umsetzung sogar verlieren, weil Bühnen- und Filmtiming sich unterscheiden.

„Glaoch“ von Linda Buckley und Doireann Ní Ghríofa ist inszeniert als Facetime-Konversation zwei junger Frauen, die den Verlust physischer Kommunikation während Corona beklagen. Die auch in der Komposition hörbaren Gedankensprünge in ihrer Unterhaltung zeigen, wie sich das störungsfreie Einlassen auf Gesprächspartner und -thema nicht nur durch die technischen Hilfsmittel erschwert. Multitasking verhindert ungestörte Zuwendung und vergrößert die Sehnsucht nach menschlicher Nähe. In Robert Colemans „The Colour Green“ wird der Traum von einem Leben auf dem Land konterkariert durch einen Trickfilm, der die schöne Illusion übersteigert und damit ironisiert.

Auch bei der zweiten Betrachtung der „20 Shots of Opera“ gerät die szenisch pointierte Musik etwas ins Hintertreffen. Die Komponistinnen und Komponisten beherrschen allesamt ihr Metier und schufen für ihre in enger Zusammenarbeit mit der Produktionsleitung entstandenen Texten angemessene und variantenreiche Partituren. Sie können nichts dafür, dass die Visualisierung den Löwenteil der Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt. Auffallend ist, dass in kaum einer der Partituren repetierende Phrasen oder Melodie-Wiederholungen vorkommen. Getragene Tempi wirken in der visuellen Umsetzung meist als stilisierter Fremdkörper. Das digitale Experiment gelang auch deswegen, weil die Partituren sich von den oft plakativen Narrativen konventioneller Filmmusiken absetzen und trotzdem verspielt wirken. Nicht zuletzt beeindruckt diese rundum gelungene Produktion dadurch, dass sie die Leistungsfähigkeit eines Opernbetriebs in einem (noch?) ungewöhnlichen Metier unter Beweis stellt.


20 Shots of Opera – Digitale Produktion der Irish National Opera

Komponist*innen: Gerald Barry, Éna Brennan, Irene Buckley, Linda Buckley, Robert Coleman, David Coonan, Alex Dowling, Peter Fahey, Michael Gallen, Andrew Hamilton, Jenn Kirby, Conor Linehan, Conor Mitchell, Gráinne Mulvey, Emma O’Halloran, Hannah Peel, Karen Power, Evangelia Rigaki, Benedict Schlepper-Connolly, Jennifer Walshe

Textdichter*innen: Éna Brennan, Jessica Traynor, Doireann Ní Ghríofa, Mark Boyle, Dylan Coburn Gray, Mark O’Halloran, Jenn Kirby, Louis Lovett, Conor Mitchell, Anne Le Marquand Hartigan, Stella Feehily, Ione, Marina Carr, Benedict Schlepper-Connolly, Jennifer Walshe

Musikalische Leitung: Elaine Kelly, Fergus Sheil, Serienleitung: Hugh O'Conor, Inszenierung: Muireann Ahern, Michael Barker-Caven, Gerald Barry, Sarah Baxter, Annabelle Comyn, Tom Creed, Stephanie Dufresne, Michael Gallen, Conor Hanratty, Davey Kelleher, Louis Lovett, Jo Mangan, Caitriona McLaughlin, Hugh O'Conor, Aoife Spillane-Hinks, Productionsdesign: Sarah Bacon, Kostüme: Katie Davenport, Licht: Paul Keogan, Video: Luca Truffarelli

Ausführende: Orla Boylan, Claudia Boyle, Mairéad Buicke, Sinéad Campbell Wallace, Rachel Croash, Rachel Goode, Daire Halpin, Kelli-Ann Masterson, Emma Nash, Amy Ní Fhearraigh, Sarah Shine (Soprano), Seán Hayden (Knabensopran), Doreen Curran, Carolyn Dobbin, Imelda Drumm, Anne Marie Gibbons, Aebh Kelly, Raphaela Mangan, Gemma Ní Bhriain, Naomi Louisa O’Connell, Michelle O’Rourke, Sarah Richmond (Mezzosoprano), Andrew Gavin, Gavan Ring, Brenton Ryan (Tenor), Gyula Nagy (Bariton), David Howes (Bassbariton), Stephanie Dufresne, Matthew Hayden, Dylan Tonge Jones, Seán McGinley, Amelie Metcalfe (Darsteller). RTÉ Concert Orchestra. Irish National Opera Orchestra

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