Anfang Juli – knapp vor Beginn der Proben – stellte die Musiktheater Füssen Besitz GmbH & Co. KG, Betreiberin des Festspielhauses Füssen, den Antrag auf Insolvenz. Bis Anfang September soll ein Investor gefunden werden, der das Gebäude und den Geschäftsbetrieb übernimmt und weiterführt. Die „Ludwig2“-Vorstellungen, von einer anderen Produktionsgesellschaft verantwortet, sind davon nicht betroffen. Realistisch geerdet und in merkantiler Distanz zu den Traumschlössern auf den Bergen gleich gegenüber ist das Konzept des Regisseurs und künstlerischen Leiters Benjamin Sahler für „Ludwig2“ von Konstantin Wecker, Nic Raine, Christopher Franke (Musik) und Rolf Rettberg (Buch und Liedtexte).
Es war ein feiner Abend mit ersehntem Glanz und Gloria am Forggensee. Die Zusammenkunft von Prominenz, Starlets und weißblauen Ludwigstreuen hatte in den Sonnenstrahlen und der kühlen Abendbrise etwas von einem frisch-fröhlichen Tanz auf dem Vulkan.
Beim Empfang nach der Galapremiere fand Wagner-Veteran René Kollo als Schirmherr (er spielt in vier Vorstellungen Ende August den mysteriösen Schattenmann) bewegende Worte zum Erhalt des Spielbetriebs an diesem idyllisch-grandiosen Spielort. Man muss ihm beipflichten: Hohe Berge, der blaue See, die neobarocken Gartenanlagen und die Foyers schreien nach weiterer kultureller und gesellschaftlicher Belebung wie etwa durch die Bulgarische Staatsoper Sofia mit dem „Ring des Nibelungen“ im letzten Jahr.
Handicap ist allerdings die Lage in einiger Entfernung von München, Stuttgart, Vorarlberg, Thurgau. Da bedarf es in Kooperationen etwa mit Tourismus-Marketing und Personenverkehr vielfältiger Entwicklungspotenzen für das 2000 mit „Ludwig – Sehnsucht nach dem Paradies“ eröffnete Haus, seinem dem Münchener Prinzregententheater nachgestalteten Zuschauerraum und den üppig illuminierten Foyers.
Es ist jetzt der dritte Start des opernhaften Musicals nach der mit finanziellen Engpässen beendeten Uraufführungsserie bis 2006 und einer Vorstellungsfolge in Kempten 2011. Das Crowdfounding bei Startnext übertraf mit einer weit über dem Doppelten des avisierten Betrags von 75.000 Euro liegenden Ertrag alle Erwartungen. Die überschaubare Vorstellungszahl bis 4. September und der Verzicht auf ein Live-Orchester, das kompromisslose Bekenntnis zur Opulenz mit falschem Schwan auf echter Wasserfläche und einer Sissy in Rot sichern die Sympathie des Publikums. Das dürfte wohl auch nach der randvollen Galapremiere im 1400-Sitze-Saal und Dank den Originaldekorationen von Rolf Rettberg so bleiben. Die freudigen Akklamationen in die Musik hinein und am Schluss, die lange Liste der Spender und Helfer, nicht zuletzt das international verankerte Interesse am queeren Märchenkönig zeigen den unmittelbaren Bedarf für so ein fantastisches Feierspiel.
„Der König ist zurück!“ in dieser melodramatischen Show, bei der Richard Wagners bronzenes Riesenhaupt über den Kabinettsphantasien zum deutsch-deutschen Krieg prunkt. Darunter setzt sich das knapp vierzigköpfige Ensemble als operettenkultiviertes Trachtenvolk ebenso eindrücklich in Szene wie als kantige Patienten in der psychiatrischen Anstalt des Doktor Gudden (Choreographie: Till Nau, Stefanie Gröning). Dem gibt kein Geringerer als Uwe Kröger mannhaftes Profil. Gudden und Ludwig II. fallen am Ende nach vielen melodisch-sensitiven Reizungen unter Schüssen aus dem Hinterhalt. Zwei Opfer politischer Ranküne sterben in Schönheit auf einen Streich, die Legende blüht.
Es blüht auch die poetische Fiktion mit Ausflügen zum zukunftweisenden Technik-Spleen des Bayernmonarchen („heißer Draht“ nach Bayreuth) und zur „Bauorgie Linderhof“. Der Beginn – wie Psychologie für Anfänger: Krach im Haus Wittelsbach und Flucht des kleinen „Wiggerl“ zu seiner sanften Gouvernante Sybille Meilhaus. Suzan Zeichner mit einer für das Genre vorbildlichen Wärme war bereits vor elf Jahren dabei und wird insgesamt für neun verschiedene Knabendarsteller vom Schwanenritter „Lohengrin“ fabulieren.
Mit Deutlichkeit widersteht der musikalische Leiter Florian Appel allen blumigen Versuchungen wie Parsifal den Mädchen in Klingsors Zaubergarten, das Sounddesign könnte allerdings noch etwas magischer sein. In den Vokalstimmen und Harmonien geistern Loewe, Schubert, Wagners Abendstern und Edel-Sentiment von Schmidts „Notre Dame“ bis Massenets „Méditation“, in Maßen ein bisschen Webber. Betörend ist das, weil mit unverhohlener Lust an den Wonneschaudern des großen Melodrams, in dem Elisabeth von Österreich nur die zweite Geige spielt. Die Allgäuerin Anna Hofbauer zeichnet bei ihrem Heimspiel ein etwas zu weiches Portrait der kristallenen Schönheitskaiserin.
Vor allem ist das ein Männerstück. Doktor Gudden, der als Ludwig II. in scheuer Zurückhaltung zum magnetischen Zentrum werdende Matthias Stockinger und Oedo Kuipers als sein Seelenfreund Graf Dürckheim sind alle höhenorientierte Bariton-Stengel mit tenoralen Blütenkelchen. Diese vokale Grundfarbe zieht durch – attraktiv, samten, verführerisch.
Darüber zeigt sich das ganze Auditorium beglückt und beseligt. Es wird innig und lange gejubelt. Man lässt sich gerne einlullen und zerfließt mit unbewusst höchster Lust - sofern man das will – in der Einheit von Landschaft, weißblauem Mythos und Heimat. Nicht ganz so wie „Gott in Frankreich“, aber beschwingt und beherzt wie „König in Bayern“ – immerhin.
Am 14. August kontert das Theater Annaberg-Buchholz mit Fritz Kreislers Singspiel „Sissy“ auf der sächsischen Naturbühne Greifenstein im Erzgebirge. Der Vergleich wird spannend sein – und verwegen.
- Vom 13. August bis 4. September 2016