„Carmina“ nennt das Theater Lübeck seinen Abend zur Spielzeiteröffnung (9. September 2017). Unter diesem Titel werden zwei Werke sehr unterschiedlicher Art zu einem Abend zusammengefügt: Claudio Monteverdis „Il combattimento di Tancredi e Clorinda“ und Carl Orffs „Carmina burana“. Das erste ist ein kaum bekanntes Werk des Italieners, an dessen Geburt vor 450 Jahren in diesem Jahr gern erinnert wird, das andere dagegen ist allbekannt und fähig, landauf, landab und immer wieder zu begeistern. Sie zusammenzufügen aber überzeugte auf der Bühne nicht. So gab es heftige Buhs für Regie und Dramaturgie, für die Agierenden viel Applaus.
Einakter zu kombinieren ist häufig ein Problem. Lübeck hatte einige Spielzeiten Glück damit, koppelte zum Beispiel erfolgreich die unverwüstliche „Cavalleria rusticana“ einmal nicht mit dem „Bajazzo“, sondern mit de Fallas „La vida breve“, brachte Zemlinskys „Der Zwerg“ und „Eine florentinische Tragödie“ zusammen oder zuletzt Dallapiccolas „Il prigioniero“ und Puccinis „Suor Angelica“. Der neuerliche Versuch nun zum Saisonauftakt wollte steigern, beschränkte sich nicht darauf, über die Pause hinweg durch Verweise auf Figuren oder durch das Bühnenbild eine Einheit zu stiften. Hier verband man beides nahtlos, Monteverdis Kammerspiel in Madrigalform und Orffs massen- und arenatauglichen Liederzyklus - und das auch szenisch.
Monteverdis Madrigal
Gerade aber nach szenischer Existenz schrien beide nicht. Monteverdis „Combattimento“, von solitärer Prägung, wurde 1624, also über 300 Jahre früher als Orffs Werk, in einem venezianischen Palast uraufgeführt und 1638 in einer Sammlung von Madrigalen veröffentlicht. Für drei Stimmen war die Handlung angelegt, die in die Kreuzritterzeit zurückführt. Sie entstammt Torquato Tassos Epos „La Gerusalemme Liberata“ (Das befreite Jerusalem) und schildert den heftigen Zweikampf des christlichen Ritters Tancredi mit einem gerüsteten Gegner. Tancredi siegt, muss aber in seinem Opfer die Sarazenin Clorinda erkennen, die er liebte. Als Kämpferin ausgebildet hatte sie sich den moslemischen Feinden angeschlossen. Erschüttert reicht Tancredi der tödlich Verletzten Wasser und tauft sie, so dass sie als Christin stirbt.
Solch ein Geschehen veristisch darzustellen, war sicher nicht Monteverdis Vorstellung. Er führte zur Schilderung des Ablaufs Testo ein, einen Erzähler und Tatzeugen, für alles, was nicht durch Musik zu schildern war. Darin aber zeigte sich Monteverdis frühe musikdramatische Meisterschaft, zumal er durch Tremolo und Pizzicato für Streicher hier erstmals neue Spieltechniken und damit neue Ausdrucksmöglichkeiten einführte.
Orffs monumentales Liederwerk
Auch Orffs mehrgliedriges Werk, 1937 uraufgeführt, erwartet keinen Bühnenzauber. Selbst die einzelnen Teile, die den Frühling, das Treiben in der Taverne und den Lauf der Liebe umschreiben, basieren auf inhaltlich, auch sprachlich unverbundenen Texten. Orff verteilt sie auf vielseitig geformte Chöre und nutzt zudem Sopran, Tenor und Bariton. Daneben gibt es wenige rein instrumentale Stücke.
Das Lübecker Experiment
In Lübeck wurde dennoch versucht, nicht nur für jeden Teil eine Bühnenhandlung zu entwickeln, beides auch noch aufeinander zu beziehen. Keine Pause half dem Hörenden, von der intimen Klangwelt des frühen Barocks mit seinen sensiblen melodischen und klanglichen Wirkungen umzuschalten auf die vor allem perkussive und rhythmische Suggestion der Ostinati und der massiven Chorklänge. Um beides kompatibel zu machen, musste der Überwältigungsgestus von Orff durch Aktionen abgefangen, aber zunächst Monteverdi großraumfüllend aufgestockt werden. Der Regisseurin Clara Kalus gelang das im ersten Teil noch einigermaßen plausibel. Auf Bodenhöhe saß das Monteverdi-Orchester (2 Violinen, Viola, Cello, Theorbe, Harfe, Portativ und Cembalo) in einem weißen Raum mit schwarzem Rahmen. Aus ihm führte eine Treppe nach oben, auf eine Spielfläche, die auch über eine Leiter erreichbar und hinten durch eine Projektionsfläche begrenzt war. Das Geschehen wurde nun in Form einer Performance ergänzt, erklärt oder erweitert, zumeist pantomimisch durch Emma McNairy (Clorinda) und Johan Hyunbong Choi (Tancredi) und dann als Projektionen ihrer Gesichter in eher statischen Bildern (Video: Konrad Kästner). Verschnürungen durch Gummibänder oder Ohrfeigen erinnerten an den Kampf. Nur wenige Sätze hatten sie zu singen, der Sopran mit klarem, dennoch weichem Ausdruck und der junge Bariton mit erstaunlich wuchtiger und klangvoller Stimme. Den tenoralen Testo gestaltete sehr agil und kräftig Per Håkan Precht. Warum er allerdings mit seinem blau-grauen Anzug und braunen Hut ein spießiges Honecker-Outfit tragen musste (Ausstattung: Mechthild Feuerstein), erschloss sich dem Rezensenten nicht.
Zeilen und Wortfetzen aus einem Liebesgedicht von Ernst Jandl, teils verdreht, bildeten eine weitere Ebene, die das tragische Verkennen im Zweikampf auf eine allgemeingültige Ebene zu bringen versuchte. Doch die Idee einer heldenhaften, dem Mann gleichgewichtigen Amazone verstärkte der Text nicht. Testo rückte Monteverdis Rollenverständnis und das seiner Zeit zurecht, wenn er konstatiert: Die, die „im Leben aufbegehrte, war … ihm im Tod ergeben“.
Geschlechterkampf
Mit all dem im Kopf sah der Zuschauer das kleine Ensemble mitsamt der Oberbühne im Boden versinken. Zugleich schob sich von hinten eine Tribüne heran mit den ca. 90 Sängern des Theaterchors und des Extrachors (Einstudierung: Jan-Michael Krüger) sowie des Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Chors aus Hamburg (Einstudierung: Gabriel Pott). Die Sängerschar des Jugendchors „Vocalino“ (Einstudierung: Gudrun Schröder) war nur aus dem Hintergrund zu hören. Alle traten in Alltagskleidung auf. Das, auch anderes wird den Kaufmännischen Direktor aus Sparsamkeitsgründen gefreut haben, machte aber eher einen unfertigen Eindruck.
Was an Aktion vor der Tribüne, teils auf ihr begann, führte ein Eigendasein, passte nicht zu den Gesängen Orffs. Der hat das launenhafte Walten Fortunas zum Thema, nicht aber Geschlechterkampf, gar Genderproblematik, den die Regie den Texten unterstellte. Statisten traten als gedeckte Tische oder Menschen ohne Oberkörper auf. Es gab szenische Einfälle wie aus dem Kopfkino Pubertierender mit plumpen sexuellen Anspielungen, so wie bei dem in sterilem Weiß gekleideten Pflegerpaar mit Luftballons oder in einigen Travestieszenen. Auch das modische Thema der Androgynie wurde drastisch dargeboten bei einem rosafarbenen Doppelwesen bis hin zur Genderparodie bei einer Conchita-Wurst-Maskerade, an der sich der gesamte Chor zu beteiligen hatte.
Musikalische Gestaltung
Die Musik hatte es schwer, ihre Wirkung zu entfalten. Das Orchester unter Andreas Wolf gab sich bei beiden Teilen alle Mühe, kaum Blößen, auch die Sänger nicht. Als Solisten traten noch einmal Emma McNairy und Johan Hyunbong Choi auf, in gleicher Kostümierung und Schminke wie im ersten Teil. Auch das ein verzweifelter Versuch, Einheit zu stiften. Der neue Tenor im Ensemble, Juraj Holly, ließ bravourös den „gebratenen Schwan“ vergehen.
Fazit
Es sei der Regie nicht unterstellt, gedankenlos gearbeitet zu haben. Die Mühe kam allerdings nicht an, jedenfalls bei den Buh-Rufern und auch bei dem Rezensenten nicht.