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Eine Frau mit von blutendem Unterleib verschmiertem weißen Klamotten. Ihre Oberbekleidung hat meterlange Ärmel, an deren Enden ein paar Soldaten ziehen. Sie steht inmitten eines Halbkreises von ihnen.

Im Zentrum des Elends: „Marguerite“ (Evmorfia Metaxaki) inmitten der Soldaten (Chor und Extrachor des Theater Lübeck). Foto: Jochen Quast

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Lübeck: Méphistophélès als satanischer Geburtshelfer in Gounods „Faust“

Vorspann / Teaser

Faust erregt seit Jahrhunderten Aufmerksamkeit, anfangs mit seiner „Historia“ und dann in vielen Versionen von Wanderbühnen oder Puppentheatern verbreitet. Erst Goethe schaffte es, ihn Nationalheld werden zu lassen. Als Charles Gounod ihn dann singen ließ, – auch andere taten das, nur nicht so nachhaltig – erreichte er Ohren und Gemüt. Die Gründe, warum er mit Goethe nicht ganz kongruent blieb, wollen wir hier als gute Europäer übergehen. Jetzt erlebte „Faust“, der sich andernorts wie in Lübeck vor 18 Jahren als „Margaret(h)e“ tarnt, ebendort eine Wiedergeburt . Über sie ist musikalisch viel Gutes zu berichten. Der Inszenierung Gleiches zu attestieren, fällt nicht so leicht. Sie war in einzelnen Szenen schwer zu ertragen.

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Schon der Beginn irritierte, nicht die Ouvertüre, die Takahiro Nagasaki in einem gedehnten Tempo dirigierte, dafür aber klangschön, auch mit lebendiger Dynamik, was sich den ganzen Abend wunderbar fortsetzte. Es verwirrte vielmehr das, was auf der nackten Bühne geschah, in einem äußerst kargen Studierzimmer, das weder Globus, Buch oder Computer hatte, nur eine Schultafel auf Rädern. Sie wurde zu einem „rolling gag“, später sogar zum Puppentheater. RIEN stand in Kreidebuchstaben darauf, später, nachdem Faust auf der Kehrseite seine Formeln weggewischt hatte, folgten die Begriffe IVRESSE, PLAIR und DESIR, die des Gelehrten verzweifelten Wunsch nach Jugend umrissen. Auch er war eben einer, der nicht nur wissen, auch lieben wollte, bis die Tafel wieder zum RIEN drehte. Es ist zugleich das erste Wort, das Faust sang, und das in der Inszenierung zum Leitmotiv wurde. Es beschrieb auch seine elende Verfassung, in der er nur noch an Suizid dachte. Die Hebebühne brachte ihn deshalb samt Giftphiole eine Etage höher und dem Himmel näher, während im Untergeschoss der lauerte, der ihn gegen eine Prämie retten wollte.

Zeichen seines vergeblichen Mühens um die Weltformel war Fausts langer Bart, der bis zum Fußboden reichte. Er stand im krassen Gegensatz zu seiner glatten Gesichtshaut und zu seinen Bewegungen. Méphistophélès fand allerdings einen einfachen Weg, ihn zu verjüngen. Er riss ihm den Bart einfach ab. Sei’s drum. Eine Oper ist keine Realityshow. Stattdessen, was wichtiger war, gab ihm der einzige Gast, der philippinisch-amerikanische Tenor Arthur Espiritu, seine wunderbar feste Stimme, kräftig in der Brustlage, grandios in der Höhe. Sie bot Méphistophélès ordentlich Paroli. Der war hier etwas gealtert, weshalb ihm eine stumme, dafür sehr agile Gehilfin (Samantha Höfer) an die Seite gestellt war. Dennoch war Rúni Brattaberg ein stimmlich auftrumpfender Geist mit weitem Ambitus. Er schaffte, sich jedem und allem entgegenzustellen, aber auch charmanter Maître de Plaisir zu sein, der vor dem Vorhang mit dem Publikum flirtete.  

Derbe Aktualisierungen

Beide, er und seine Faktota, trugen Uniform, bescheiden und ohne Ehrenzeichen, ordneten sich damit aber dem Wehrstand zu. Der bewies seine Herrschaft bereits im ersten Bild, als ein Trupp in Tarnkleidung, Stiefeln und Kappen im Bühnennebel vorbeimarschierte. Weder Faust nahm von ihm Notiz, er auch nicht von ihm. Das verlangt erklärt zu werden, da weder Gounods Librettisten Jules Barbier und Michel Carré es taten, auch Goethe nicht. Sie waren also Zutat der Regie, Verweise vielleicht auf das (Fehl-)Verhalten der Soldaten in der Ukraine oder dem Nahen Osten? Auf jeden Fall sind sie eine derbe Aktualisierung, wie auch im zweiten Akt in der „Herberge“, wo die gleichen Soldaten und Soldatinnen den Ort zur Schenke umfunktionierten. Damit waren alle „Mädchen, Matronen, Bürger, Studenten“ (s. Textbuch) ausgeschlossen, nicht nur hier, sondern in der ganzen Handlung. Das war gut so, war doch das, was die Soldateska dort trieb, absolut nicht jugendfrei.

Der dänische Regisseur Kasper Wilton entwickelte mit seinem Team Camilla Bjørnvad (Bühne und Kostüme) und Ulla Benninghoven (Choreografie) eine ausgesprochene Lust daran, die Tanzszenen orgiastisch und mit Kokain zu würzen, auch sonst auf derbe Pointen zu setzen. Eine war, Méphistophélès in der ersten Kneipenszene so lange an dem penisförmigen Zapfhahn reiben zu lassen, bis es herausspritzte. Von Wein war die Rede. An späterer Stelle, im vierten Akt, urinierten Soldaten auf Valentins Leichnam. Mehr versteckt war der Hinweis in der Schlussszene. Auf der Oberbühne verbrachte Marguerite ihre letzten Minuten im Kerker. Darunter war ein gleich großer Käfig mit engem Maschendraht, der junge Frauen verwahrte. Wozu wurde klar, als einige just in dem Moment von Soldaten geholt wurden, als Marguerite sich an die erste Begegnung mit Faust erinnerte. Gounod hatte dieser Szene leise die Melodie des Margeriten-Walzers unterlegt, die in dieser Inszenierung eine der beiden wüsten Orgien begleitete.

Traumatischer Kindsmord

Schwerer wogen noch die brutalen Szenen um Marguerite. Die heftige Beschimpfung in der Kirche, die Méphistophélès und seine Helferin in schwarzen Talaren ausführten. Sie war der Auftakt zu der traumatischen Geburtsszene. Nur etwas anderes Licht, ein Krankenbett und grüne OP-Kittel wandelten die, die sich blitzschnell aus ihren Talaren schälen mussten, zu bestialischen Geburtshelfern. Sie rissen der Mutter das Kind aus dem Leib und entsorgten es sogleich in einer schwarzen Tüte. Grinsend zeigte der Teufel – hier soll er so genannt werden – seine blutverschmierten Hände.  

Ob die Regieleistung insgesamt Beifall verdient, muss jeder selbst entscheiden. Sie war auf jeden Fall munter, gut gearbeitet auch durch Motivketten, die das Puppenspiel einbezog. Die Choreografie holte zudem aus dem Chor erstaunlich viel heraus, und auch die karge Bühnenausstattung ließ nichts vermissen. Selbst die merkwürdige Apotheose, die Faust und seine Marguerite rückwärts in den Himmel schreiten ließ, ist zu vertreten.  

Publikum würdigt besonders die Musik

Der aufbrausende Beifall würdigte in erster Linie die Sänger, vor allem die der Marguerite, der Evmorfia Metaxaki ihre präsente, einfühlsam auf die Situation eingehende, nie übersteigernde Stimme gab. Eine hervorragende Leistung! Als Siébelle agierte Laila Salome Fischer. Es überzeugte, dass sie nicht als Siebel in einer Hosenrolle agierte, so konnte sie einfühlsam, zumal noch kindlich mit einer Puppe ausstaffiert, in einem Doppelverhältnis zu Marguerite und zu deren Bruder Valentin stehen. Valentin war Jacob Scharfman anvertraut, der mit seiner jugendlichen Erscheinung und seinem überaus kräftigen Bariton dieser Rolle in jeder Hinsicht Gewicht gab. Edna Prochnik wickelte als Marthe den Bösen mütterlich um den Finger. Sie löste das stimmlich und spielerisch bewundernswert, wie auch Changjun Lee mit stählernem Bass seine leider nur kleine Partie als Wagner.

Das Publikum achtete im Schlussbeifall besonders Takahiro Nagasakis Leitung und die Leistung des Philharmonischen Orchesters. Stellvertretend sei das berückende Klarinettensolo genannt, das in den letzten Akt führte. Auch der von Jan-Michael Krüger geleitete Chor, sowohl singend wie schauspielerisch stark gefordert, erhielt langen Beifall. Verschwiegen sei nicht, dass dem Regieteam beim Schlussbeifall stark zugestimmt wurde.

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