Nun doch: Die Theater öffnen sich, Kultur findet zaghaft zurück, durch die Pandemie atmosphärisch verkehrt, verändert. Der Auftritt des Zuschauers im Foyer zum Beispiel: das kleine Schwätzchen vor Beginn über das zu Erwartende verbieten Leitlinien und der verordnete Gänsemarsch in gebotenem Abstand. Oder: Dort, wo der spätere Besucher sich sonst Knie gegen Knie zum Platz zwängt, vermeiden Lücken in der Bestuhlung die körperliche Indiskretion, verhindern ebenso den Sieg im stillen Kampf um die Armlehnen.
Wunderbar sogar: Die Sicht nach vorn bleibt von Sitzriesen, tuschelnd zusammengesteckten Köpfen oder kühnen Haartollen ungetrübt, denn die Reihe davor ist unbesetzt. Noch mehr: Ihre Sitze sind schwarz abgedeckt und das gibt dem Raum die Würde eines Thanatoriums.
Wechselt aber das Saallicht zur Bühnenbeleuchtung, setzt sich das Faszinosum Theater durch wie eh und je. Der Zuschauer vergisst, dass er bis zum Eintritt in den Saal die Maske trägt, nicht die Agierenden auf der Bühne. Auch dass das Orchester auf der Bühne hinter einem Gazevorhang sitzt, wird schnell verdrängt, und dass nur eine Sängerin auf kleiner Plattform agiert. Sie bannt das Publikum ebenso, wie die Instrumentalklänge es einhüllen. Corona hat verloren!
Das Thema der Opern passt zudem. Was symbolisiert positives AHA-Verhalten besser als Kontakt, der nur über das Telefon erfolgt? Das Theater Lübeck fand gleich zwei Werke, die sich dieser keimfreien, dafür seelisch strapazierenden Art des Miteinanders widmen – beide weit vor der aktuellen Kulturverhinderungs-Epidemie entstanden. Beide sind reizvolle Spiegel, was eine aufs Verbale eingeschränkte Kommunikation kann und was nicht.
Poulenc: „La voix humaine“ (Die menschliche Stimme)
Das eine Werk stammt von Francis Poulenc. Er hatte für Jean Cocteaus Theaterstück „La voix humaine“ (Die menschliche Stimme) sensible Töne gefunden. 1959, knapp 30 Jahre später wurde diese 40minütige Mono-Oper in Paris uraufgeführt, von Georges Prêtre dirigiert. In Deutschland erklang sie 1963 erstmals und zwar in Lübeck! Gerd Albrecht, 2014 verstorben, dirigierte sie in seinem ersten Jahr als neuer GMD, damals 27 Jahren alt.
2020 kam es anders. Für den ersten Auftritt als Opernchef hatte sich GMD Stefan Vladar Spektakuläres vorgestellt, Luigi Cherubinis „Medea“, ein Werk mit großen Partien, auch für den Chor. Die bekannten Verhältnisse bedingten die radikale Reduktion. Als Ersatz fand Vladar eine ähnlich Verlassene, die „Femme“ in Cocteaus Stück, eine, die wie Medea durch Untreue verletzt wird und den Tod sucht. Zumindest deutet es das Aufführungskonzept der Norwegerin Vibeke Andersen und des Österreichers Rainer Vierlinger so, das Bernd Reiner Krieger, Stellvertretender Operndirektor, in dieser Weise inszenatorisch umsetzte.
„Wir glauben zu wählen, aber wir haben keine Wahl“
Es ist eine Frau, die auf den Anruf ihres Geliebten wartet. Als er endlich zustande kommt, unterbrechen immer wieder technische und andere Probleme die Kommunikation, aber auch die emotionalen Höhen und Tiefen der Frau, die mit Unwahrheiten und Ausbrüchen, mit Versprechen und Verletzungen, mit Vorwürfen und Schuldeingeständnissen ihn, den Geliebten, zurückgewinnen will. Nur ihren Part erlebt der Opernbesucher, die eine Seite also eines Gesprächs, gehaucht, geflüstert, geschrien in das Telefon. Es ist eine Rolle, die die Mexikanerin María Fernanda Castillo mit Bravour meistert, in der monologischen Gestaltung von Anbeginn überwältigend. Ihr warmer Sopran durchmisst alles, die verführende Melancholie wie die hysterische Expression. Dazu spielt sie ihren Part äußerst überzeugend. Poulencs variable Musik gibt bereits ein spannendes Auf und Ab vor, wunderbar auch in der Dezenz, die der Stimme immer Raum lässt. Die Inszenierung, ins Jahr des Entstehens des Textes versetzt, gliedert das noch durch präzise Regie und nur wenige Requisiten. Wenn sie etwa sich ihres Pelzes entledigt oder in den letzten fünf Minuten ihr Gespräch mit abgerissenem Verbindungskabel fortführt, wird deutlich, wie sie immer mehr verzweifelt. Die Frage entsteht, ob das ganze Gespräch nur irreal, eingebildet, hysterisch ist? María Fernanda Castillo vermag das grandios in der Schwebe zu halten. Und ob Cocteau oder Poulenc sich vorstellten, dass sie sich wie hier mit der Telefonschnur stranguliert, ist ebenso ungewiss, in dieser Inszenierung dennoch glaubwürdig. „Wir glauben zu wählen, aber wir haben keine Wahl“. Das ist eine Aussage von Jean Cocteau, im Programmheft nachzulesen.
Menotti: „Das Telefon oder L’amour à trois“
Wie soll man aus der Hochstimmung des Seelendramas herausfinden, wenn Corona-bedingt kein Pausensekt erlaubt ist? Stefan Vladar setzte sich in der Seitenloge an den Flügel und überdeckte den Umbau mit zwei Stücken von Erik Satie. Versonnen und wohl dosiert erklangen sie trotz des strapazierten Bühnenflügels. Aber das Publikum hatte Muße, sich auf Gian Carlo Menottis burleske Kammeroper umzustimmen, auf effektvolle, an Filmmusik erinnernde Leichtigkeit, Umkehrung der Anspannung im ersten Teil. Denn „Das Telefon oder L’amour à trois“, die einaktige Opera buffa von ca. 20 Minuten Dauer zu Menottis eigenem Libretto, sprüht vor Temperament. 1947 wurde sie uraufgeführt.
Das Telefon steht wie bei Poulenc im Mittelpunkt, dort als Medium, jetzt als grotesker Lebensmittelpunkt von Lucys fetischistischer Telefonitis. In der Inszenierung, wieder von Rainer Vierlinger, hat sie etliche der Fernsprechobjekte, die sie mit Aufwand und in Selbstvergessenheit pflegt und denen sie zwanghaft „hörig“ ist. Immer meldet sich eines, auch als Ben ihr einen Heiratsantrag machen will. Das Schrillen der Apparate überdeckt immer wieder seine Versuche. Wie er, schon verzweifelnd, schließlich listig noch Erfolg hat, beendet die verschrobene Handlung feinsinnig. In diesem Zweipersonenstück gibt Andrea Stadel der Lucy eine hinreißend quirlige Exzentrik, vermeidet gekonnt eine äußerliche Klamotte. Das gelingt ihr vor allem durch ihre variable stimmliche Leichtigkeit, mit der sie ihre Telefonate führt, ansteckend in ihrer Lach-Arie mit grandiosen Koloraturen. Ben, ihr Verehrer, hat es im Wortsinn „schwerer“. Der kraftvolle Bariton des Südkoreaners Johan Hyunbong Choi ist zu gewichtig, zu ernsthaft für diese lockere Farce.
Ein mögliches Fazit
Das etwas kleinere Orchester spielt jetzt aus dem Graben, auch hier von Stefan Vladar nuanciert geführt. So wirkte bei dieser zweiten Premiere am 30. August alles „normal“. Erst als der Vorhang fiel, wurden trotz des begeisterten Beifalls die Einschränkungen wieder bewusst, unter denen alles zustande kam. Das aber machte den Sieg über die viralen Einengungen umso achtbarer.