Circus und Musiktheater standen sich Ende des 19. und im frühen 20. Jahrhundert sehr viel näher als heute. Damals fühlte sich etwa noch der Zirkus Busch mit einem „großen hippologischen Ballett“ zur Popularisierung von Wagners Walkürenritt berufen.
Angesichts der Proteste und Auflagen von Tierschützern werden Tierdressuren immer seltener. Selbst der traditionelle Russische Staatscircus hat kaum mehr Tierattraktionen, abgesehen von einem (!) Pferd und einer Hunde-Dressur. Und wenn dort „Das Orchester des Großen Russischen Staatscircus“ annonciert wird, erheben sich fünf Musiker von ihren Plätzen; aber auch die lassen in der Programmabfolge zumeist Tonkonserven den Vortritt.
Orchestraler Aufwand hingegen zum Jahresende 2011 im Berliner Tempodrom, jenem steinernen Circus, in dem noch vor Fertigstellung das „Kunststück“ der Millionenverschleuderung stattgefunden hatte. Für den Silvesterabend addierte das Deutsche Symphonie Orchester Berlin Programmhöhepunkte des derzeit im Tempodrom gastierenden Circus Roncalli mit einem bunt gemischten symphonischen Programm. Dieser exzellente Klangkörper erlebt es vermutlich selten, dass bereits während seiner Darbietung applaudiert wird. In großer Besetzung (mit 2 Harfen) links neben dem Manegenentree aufgebaut, stellte sich das DSO unter der musikalischen Leitung von Alan Buribayev in den Dienst circensischer Darbietungen.
Allerdings hat auch Roncalli – außer Wolfgang Lauenburgers quirlig-witziger Dressur von Mischlingshunden – keine Tiere zu bieten. Mäßiger Ersatz dafür ist die Riesenschlange Gisela, ein silbern glitzerndes, heliumgefülltes Kunstobjekt, welches – an kaum sichtbaren Propellern ferngesteuert – über den Köpfen des Publikums einen Schlangentanz vollführt. Aus einer Vielzahl vom DSO vorgeschlagenen Musiknummern hatten die Artisten die für ihre Darbietung adaptierbaren E-Musikstücke ausgewählt und in nur zwei gemeinsamen Proben die circensische Umsetzung der live dargebotenen Musik angepasst.
Zu Chabriers „Espagna“ exerzierten die spanischem Azzario Sisters ihre Balanceakte Kopf auf Kopf, zu Smetanas Circusmusik aus der „Verkauften Braut“ und Schostakowitsche Jazz-Suite boten die Hunde ihre Kunststückchen dar, und das halsbrecherische Schleuderballett Sokolov wirbelte zu Glinka und Khatchaturian. Die Vorherrschaft russischer Literatur war vermutlich dem kasachischen Gastdirigenten geschuldet, der auch beim Hexenritt aus Humperdincks „Hänsel und Gretel“ (ganz ohne Luftakrobatik) jenen Wind wehen ließ, der in Borodins „Steppenskizze aus Mittelasien“ vorherrscht. Zu Borodins Tanz der Polowetzer Mädchen drehte Fabricio Nogueira seine Fahrrad-Runden in einem sich in der Circuskuppel hebenden und senkenden Holzpanelen-Rondell.
Bachs „Air“ und Griegs Norwegischer Tanz, waren offenbar von den Akrobaten verschmäht wurden, blieben aber ohne Aktion in der Programmabfolge erhalten und wurden zu Glanzpunkten der Orchesterdarbietung. Bei der Zugabe von Johann Strauß’ „Eljen a magyar“ erwies sich Alan Buribayev selbst als ein Artist frei schwebender Orchesterleitung. Musikalische Hochseilakte vollbrachte auch Sergei Nakariakov mit dem 3. Satz aus Mendelssohns Trompetenkonzert und Bellstedts Variationen über ein neapolitanisches Volkslied; nur verbeugungstechnisch könnte dieser Trompetenvirtuose den Artisten noch Einiges abschauen.
Akrobatischer Höhepunkt des Programms war der luftige Pas-de-deux zu Dvoraks Slawischem Tanz op. 72, den die russischen Kontorsionisten Olesia Shulga und Dmitriy Gyrgorow als erotisch schwebenden Flugtanz darboten. Hierbei hing nicht nur – wie sonst bei Starsolisten – das Publikum an den Lippen des Interpreten, sondern die Ballerina mit ihrem ganzen Körpergewicht veritabel am Mund des Luftakrobaten. Einen besonderen musikalischen Höhepunkt bildete Berlioz’ Rákóczi-Marsch. Bei Julius Fučíks unvermeidlichem „Einzug der Gladiatoren“ als Finale, erntete das DSO für das gesteigerte Kunstereignis ebenso heftigen Beifall, wie die Artisten des aktuellen Roncalli-Programms.
In der Akustik durchaus weniger glücklich als das Tempodrom ist der große Saal des Konzerthauses am Gendarmenmarkt. Historisch gesehen ist das einstige Königliche Schauspielhaus jene Stätte, an der Carl Maria von Webers „Freischütz“ die Uraufführung und Wagners „Der fliegende Holländer“ seine Berliner Erstaufführung erlebten. Darum wohl standen auch diese beiden Ouvertüren am Anfang des Neujahrskonzert-Programms des Konzerthausorchesters, jene zu Wagners Romantischer Oper allerdings mit dem tristanisch verklärten Schluss der Münchener Fassung.
Für Charles Ives’ „The Unanswered Question“ erklang die fragende Trompete aus dem Zuschauerrang, dem Orchester gegenüber, und die Flöten versuchten ihre Antworten neben den Orgelpfeifen, hinter Stellwänden versteckt, zu geben.
Am vorangegangenen Silvesterabend hatte das Orchester unter der Leitung von Dimitri Kitajenko musikalisch ein russisches 4-Gang-Menü, inklusive Amuse-geule und Dessert, serviert. Dabei war Sergej Rachmaninows Rhapsodie über ein Thema von Paganini in a-Moll, op. 43, als Solostück erklungen. Wohl aufgrund des Engagements der vom Publikum mit Ovationen gefeierten Tastenvirtuosin Lilya Zilberstein wurde das Solostück auch ins Programm des Neujahrsnachmittagskonzerts übernommen. Das verkappte Klavierkonzert einer Metamorphose der Violinsaiten in jene des Flügels, mit seinem dominanten Dies-irae-Thema, passte aber nicht so recht in das beschwingte deutsch-amerikanische Programm. Bernsteins „Candide“, in dieser Saison in der Staatsoper und der Deutschen Oper Berlin auf dem Spielplan, sollte mit seiner wirkungsvollen Ouvertüre auch hier nicht fehlen; dabei konnte sich Dimitri Kitajenko in dem von Intendant Sebastian Nordmann sympathisch heiter moderierten Gesprächskonzert nicht nur auf seine persönliche Freundschaft mit Leonard Bernstein berufen, sondern auch darauf, dass der 1990 verstorbene Komponist immer noch zu ihm spräche und er bereits wisse, was Bernstein ihm nach diesem Neujahrskonzert sagen werde.
Bot Bernsteins Swing ein amerikanisches Pendant zu den Johann Strauss-Walzern des Wiener Neujahrskonzerts, so war Richard Wagners „Großer Festmarsch“, den der Komponist parallel zur Vorbereitung der Bayreuther Festspiele im Jahre 1876 komponiert hat, die echte Besonderheit des Berliner Konzertprogramms. Leider vereitelten die (offenbar in Folge der Silvesternacht) diesmal arg indisponierten Bläser des Konzerthausorchesters, die auch schon bei Webers Ouvertüre gekickst hatten, das Strahlen dieses 5000-Dollar-Auftragswerkes für Philadelphia. Der „Große Festmarsch zur Eröffnung der hundertjährigen Gedenkfeier der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Nordamerika“, WWV 110, erklingt sehr selten: als einzigen Tonträger gab es bis in die Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts hinein nur eine gekürzte(!) Einspielung beim Bayerischen Rundfunk. Im Jahre 1971 unterbrach Walter Keller mit einer Privatpressung unter Ernest Bour und dem SWF-Orchester, im Auftrag der Schweizerischen Richard Wagner Gesellschaft, das lange Verstummen dieser Komposition. Aber nur eine weitere Schallplatteneinspielung, unter Marek Janowski, folgte, und im Jahre 1983 eine CD-Produktion mit dem Hongkong Philharmonic Orchestra unter Varujan Kojian. Das von sakrosankten Bayreuther Wagnerianern abfällig kurz als „Amerikaner-Marsch“ bezeichnete Werk wird dem von Alfred Lorenz für Wagners späte Musikdramen nachgewiesenen formalen Reichtum gerecht und wartet mit echt tristanischen Steigerungen auf. Auch der Rezensent erlebte es am Neujahrstag 2012 erstmals im Konzertsaal.