Kann man Giuseppe Verdis „La forza del destino“ mit seinen unwahrscheinlichen Wendungen in der Handlung heute noch ambitioniert und nicht allein abbildend auf die Opernbühne bringen? Man kann. Valentin Schwarz, Regisseur des Bayreuther „Rings“ von 2022 hat es am Kasseler Staatstheater versucht.
Übt „das Schicksal“ wirklich Macht über die Menschen aus? Kein moderner Regisseur kann den Titel von Giuseppe Verdis „La forza del destino“ einfach so hinnehmen. Natürlich auch Valentin Schwarz nicht, der die Neuinszenierung der Oper (und das Bühnenbild) am Kasseler Staatstheater verantwortet. Ist es nicht eigentlich die Macht, die das Schicksal der Menschen lenkt, auch wenn über der Bühne das Wort „FATUM“ in altdeutschen Majuskeln prangt? Soweit die Fragestellung. Doch Schwarz arbeitet nicht einfach die Kraftwerke des Stücks als Movens heraus – die Familienehre der Calatravas, die Kirche, der von Herrschern angezettelte Krieg –, sondern hat sich vorgenommen, „einen eigenen Weg von Abstraktion und psychologischer Detailbetrachtung“ zu begehen; „eigene Logiken jenseits von zeitlicher und geographischer Verortung“ und „eine überzeitlich zwingende Parabel“ sollen laut Programmheft gezeigt werden.
Was das Premierenpublikum am 1. April dreieinviertel Stunden lang zu sehen bekam, war ein überaus fordernder, mitunter auch überfordernder Bilderreigen. Ein roter Faden war kaum zu erkennen, wenn man nicht das Rot des allgegenwärtigen Blutes als solchen betrachtet. Die Personen waren in überaus fantasievolle Kostüme (Otto Krause) gekleidet. Zu Beginn trägt Leonora ein langes Kleid und eine Frisur, die einem Velázquez-Gemälde entnommen sein könnte, am Ende erscheint ihr Bruder Don Carlos als spießiger Kleinbürger mit Frau und Kind. Dazwischen aber pure Fantasie, scheinbar aus (Alb-)Träumen materialisiert. Zu schauen gibt es viel, auch zu staunen über schöne Tableaus wie am Ende des zweiten Akts. Leonoras Klosterzelle ist eine Art Tabernakel (ging dem Regisseur des Bayreuther „Rings“ von 2022 der Walkürenfelsen durch den Sinn?). Das große Rechteck über der Bühne deckelt das Geschehen ab. Von oben ist also keine Rettung zu erwarten. Fast omnipräsent ein Baum der Erkenntnis, wo der Klosterbruder Melitone (sängerisch wie schauspielerisch hervorragend Sam Taskinen) Wacht hält, halb Eva (der Apfel …), halb Teufel. Er ist als Strippenzieher des Ganzen angedeutet. Mittelalterliche Gemälde von Gabriel Angler und Marcantonio Raimondi schaffen eine zusätzliche Dimension.
Wenn angesichts einer solch überbordenden Ideenvielfalt allerdings plötzlich allzu Konkretes aufploppt, ist das ein Bruch. Dass Kassel ein Standort ist, wo Panzer produziert werden, weiß jeder, und dass Krieg gerade in unseren Tagen noch viel schrecklicher geworden ist, weiß man ebenso aus der Tagesschau. Wozu dann Videos von rollenden Panzern und dem zum Massengrab zerbombten Theater von Mariupol?
Was kann man mitnehmen? Faszinierende optische Eindrücke, und eine ausgezeichnete Personenregie. Und eine musikalisch durchweg gelungene Darbietung. Tagessieger auf der Applausamplitude war GMD Francesco Angelico. Er hatte sein Staatsorchester zu einer individuellen, durchdachten Kolorierung geführt, die faszinierte: geschmeidig in der Ouvertüre, mit immer wieder sinnvoll gesetzten, Aufmerksamkeit einfordernden Akzenten im Verlauf des Stücks. Sehr gute solistische Leistungen vervollständigten die brillante Darbietung. Auch die Opernchöre hatten in ihren vielen Genreszenen einen guten Tag.
Die Sängerleistungen hielten ebenfalls das Niveau. Als Gäste agierten Luisa Tambaro wandlungsfähig zwischen kraftvoll und lyrisch und Zurab Zurabishvili durchdringend, rau, authentisch als Don Alvaro. Filippo Bettoschi als Don Carlos war ihm mit seiner vielfältig modulierbaren Stimme ein passender Freund-Feind. Auch bei der Wahl der größeren Nebenrollen hatte das Theater eine gute Hand: Don Lee als Vater Calatrava und Pater Guardian verströmte milden Glanz, Ilseyar Khayrullova als Preziosilla quirlige Abwechslung.
Am Ende gab es für alle, auch für das Regieteam, anhaltenden Beifall.