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Fest des Hörens und Sehens: „Voice Lab“. Foto: Frauke Aulbert

Fest des Hörens und Sehens: „Voice Lab“. Foto: Frauke Aulbert 

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Macht und Ohnmacht

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Orbit – Festival für aktuelles Musiktheater in Köln
Vorspann / Teaser

Das Konzept von „Orbit“, „diverse Werke mit individuellen, authentischen Handschriften“ zu präsentieren, ist aufgegangen. Und dass die künstlerischen Leiterinnen Christina C. Messner und Sandra Reitmayer an den vier Festivaltagen keine Uraufführungen, sondern ausschließlich Wiederaufnahmen programmierten, ist im Hinblick auf Repertoirebildung und Nachhaltigkeit aufwändiger Produktionsprozesse ebenfalls zu begrüßen. Die Grenzen des Genres wurden extrem ausgedehnt und ausgereizt, einige Darbietungen glitten aber zu sehr ins Konzertformat ab. So nahmen in „21 songs in a public surrounding“ von Hannes Seidl und MAM.manufaktur für aktuelle Musik theatralische Elemente und schrille Kostüme eher Alibifunktion ein. Zudem führte die partielle Verortung dieses Stücks im realen Leben, am (berüchtigten) Kölner Ebertplatz mit der dortigen Drogenszene, zu Akustik- und Aufmerksamkeitsdefiziten. Ob sich die Einbeziehung des öffentlichen Raums immer lohnt, darf hinterfragt werden.

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„Abgrund des menschlichen Seins“ 

Eröffnet wurde das breite Spektrum der Formen, Inhalte und Ansprüche in der Orangerie am Kölner Volksgarten mit „Hark!“ von Luisa Saraiva, Senem Gökce Ogultekin, Nathan Bontrager und Peter Rubel. Die vier können nichts richtig, wollen aber alles und tun es auch: Sie tanzen und singen, und sie musizieren auf alten Instrumenten. Stroh zu Gold zu spinnen gelingt indes nur im Märchen – oder doch auch im Musiktheater? Eine hohe performative Intensität war dem Quartett jedenfalls nicht abzusprechen. Gesungen wurde beim Laufen, Liegen und Kopfstand, und zwischendurch von einschneidenden persönlichen Erlebnissen erzählt. Ob diese wahr sind oder nicht, spielte für das Spannungsfeld aus Selbstentblößung und Selbststilisierung keine Rolle. Intro- und Extroversion durchdrangen sich. Woher kommen wir, wohin gehen wir? Das war das zentrale Thema von „Hark!“.

In die Clubatmosphäre des Konzert­raums 674FM entführte „Der Täubling“, der antrat, „am Abgrund des menschlichen Seins zu jonglieren“. Nun, Abgründe sind immer eine Frage der Perspektive. „Der Täubling“ stürzte jedenfalls nicht ab und kann einiges: Er bot starke Songs und eine fantastisch-schräge Show zwischen inszeniertem Selbstmitleid, Weltschmerz und gro­ßer Pose, mit und ohne Maske, wobei das Erscheinungsbild ohne Maske wie die eigentliche Maske anmutete und die aufgesetzte Maske (ein Zombiehase) erst das wahre Gesicht zeigte.

Immer wieder in die Maske kam dagegen der Bariton Daniel Gloger in Michael Maierhofs „Cold Sweat“. Mehrmals erschien die Regisseurin Isabel Osthues am „Tatort“ und schminkte, wie am Filmset, sein wächsernes Antlitz nach. Er kauerte am Boden, stöhnte, erzeugte Stimmgeräusche, hantierte mit einer Pistole, stellte eine leidende Figur aus Terence Youngs gleichnamigem Actionfilm von 1970 nach, aus dem kurze Sequenzen auf Video eingestreut wurden. Gloger machte nicht das, was er am besten kann, nämlich singen, doch er war auch als Schauspieler sehr präsent, begleitet von sperriger elektronischer Musik, die Maierhof wohldosiert dazumischte. 

Rausch der Stimmkunst 

Auf der Bühne der Alten Feuerwache unterstrich die Sängerin und Performerin Frauke Aulbert in „Voice Lab“, dass sie mit der Stimme einfach alles will und kann. Extrem virtuos und fantasiereich agierte sie in ihrem multimedialen „Stimmlabor“ real und auf Leinwand als Vokalakrobatin, selbstironische Diva oder Influencerin – in Werken von Brigitta Muntendorf, Jennifer Walshe, George Crumb, Meredith Monk und ihr selbst, die sie zu einem sinnlichen Strom der Gedanken und Emotionen, zu einem Rausch der Stimmkunst, verdichtete – mit einer grandiosen Hommage an die grelle Popsängerin Nina Hagen am Schluss.

Geriet „Voice Lab“ zu einem Fest des Hörens und Sehens, so war das „Publikum“ in „Proviant“ selbst gefordert. Die Performerinnen Eva-Maria Baumeister und Fiona Metscher taten selbst fast gar nichts, gaben lediglich Handlungsanweisungen für Diskurse, Reflexionen und klingende Kommentare über Mangel (und Überfluss) in der Gesellschaft, die das handverlesene „Publikum“ einlösen sollte. In diesem geschützten Raum, musikalisch ausgefüllt von Oxana Omelchuk (Komposition, Elektronik) und Constantin Herzog (Kontrabass), wurde auch gegessen und getrunken, während die Welt da draußen sich in echtem Baustellenlärm offenbarte, der schon mal an das Heranrollen eines Panzers erinnern konnte. Traditionelle Arien in exaltierte Körpersprache zu übersetzen, im übertragenen Sinn die Sphäre des „künstlichen“ Gesangs ins Archaische, in Gestik und Mimik (zurück) zu verwandeln, haben sich Leo Hofmann und Benjamin van Bebber in „A Sing- thing“ vorgenommen, das sich auch an Blinde und Taube richtete. Hofmann selbst und den Performerinnen Athena Lange und Sabrina Ma gelang das bestechend. 

Und als am Ende alle drei, mehr beiläufig als ehrfürchtig, Maria Callas auf einem Video zusahen (zu hören war sie nicht), schloss sich der Kreis zur Operngeschichte, in die sich „A Sing- thing“, mit der Oper Köln als Kooperationspartner, eigenwillig einreiht. Diese Produktion setzte den Endpunkt in einer Tour de force durch aktuelle Positionen des Musiktheaters, die ebenso genussvoll wie eindringlich Macht und Ohnmacht dieses Genres untermauerten.

Seine Macht liegt immer noch und immer wieder in sinnlichen Erfahrungen, die sich bruchlos vermitteln und Denkanstöße geben; seine Ohnmacht dokumentiert sich darin, dass sein Wirkungskreis eng begrenzt ist und es im Zeitalter von wachsendem Populismus, Kriegen, Dominanz sozialer Medien, Zwang zur Selbstoptimierung etcetera zunehmend marginalisiert zu werden droht; vor allem falls die Förderung avancierter Kunstformen zurückgefahren wird. Wie es nach „Spark“ (2022) und „Orbit“ mit diesem wichtigen Festival weitergeht, steht noch in den Sternen. Ideen und der Wille der Macherinnen sind vorhanden; konkrete Förderzusagen gibt es noch keine.

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