Am 7. September fand im Markgräflichen Opernhaus in Bayreuth, einem der schönsten barocken Opernhäuser Europas eine ganz besondere Aufführung statt. Zum ersten Mal seit 1740 wird die Oper „Alessandro nell’Indie“ (Alexander in Indien) des neapolitanischen Komponisten Leonardo Vinci aufgeführt, und zwar nach dem Vorbild der Uraufführung in reiner Männerbesetzung. Das Ganze im Rahmen der dritten Ausgabe des Bayreuth Baroque Opera Festivals unter Regie von Max Emanuel Cencic, er ist einer der führenden Countertenöre und Gründer und Leiter dieses Barock-Festivals, das zeitlich immer nach den Bayreuther Richard Wagner-Festspielen stattfindet.
Die Oper „Alexander In Indien“ ist das Erstlingswerk des süditalienischen Komponisten Leonardo Vinci, der – in Neapel ausgebildet – zu einem der schillerndsten Vertreter der neapolitanischen Schule wurde, ja zu einem Star der neapolitanischen – und römischen – Oper im 18. Jahrhundert. Die Oper „Alessandro nell’ Indie“ von Vinci ist die erste Vertonung des gleichnamigen Librettos Pietro Metastasios, der Wiener Hofdichter und ohne Frage der einflussreichste und gefragteste Librettist seiner Zeit war. Seine Libretti wurde an die 80-mal vertont, von so berühmtesten Komponisten wie Porpora, Hasse, Pacini, Scarlatti und Händel, um nur einige zu nennen.
Es geht in der Oper Vincis um den Indienfeldzug des makedonischen König Alexanders des Großen und dessen Eroberung des Fürstentums der Paurava unter König Poros im Jahr 326 v. Chr. bei der Schlacht am Hydaspes-Fluss.
Doch es geht in dieser Oper weniger um Politik als um Liebe: Alexander der Große (Alessandro) liebt die indische Königin Cleofide, diese jedoch hat ihr Herz dem von Alexander besiegten König Poro versprochen – es entspinnt sich zwangsläufig ein emotionsgeladendes Drama zwischen Liebe, Intrige und Eifersucht. Ein theaterwirksames Verwechslungs- und Verkleidungsstück zweier Liebespaare, eines Intriganten und eines Herrschers, an dessen Ende Alexanders Güte, seine verzeihende Gerechtigkeit und allgemeine Versöhnung stehen. Der Besiegte wird in seinem Amt belassen. Auch die amourösen Verhältnisse werden zu allgemeiner Zufriedenheit bereinigt. Friede, Freude Eierkuchen, Herrscherpreis und Lieto Fine.
Max Emanuel Cencic, Countertenor, Impresario, Producer, ein Hans Dampf in allen Gassen, hat Regie geführt. Er zeigt das Stück im englischen Royal Pavillon in Brighton (einem legendären britischen Seebad). Diesen Pavillon hat der für seine Ausschweifungen bekannte König George IV. Anfang des 19. Jahrhunderts im Stile eines indischen Mogulpalastes erbauen lassen.
In Cencics Inszenierung kommt George IV. gerade von einem Fest, umgeben von Schauspielern, Sängern, Tänzern. Und die kommen auf die Schnapsidee, den Indienfeldzug Alexander des Großen nachzuspielen. Zwei Conférenciers führen als Karikaturen britischer Hofschranzen durch die Handlung. Ein Theater auf dem Theater zeigt, auf Leinwand gemalt, die antiken Schauplätze. Ein Unterhaltungsjoke, ein Partythema, weiter nichts, und das als Mischung aus barockem Tingeltangel und Chez-nous-Transvestitenshow im Opera-Seria Hochglanz-Format, um es salopp zu sagen. Domenico Franchi hat eine beeindruckende, ganz realistische Bühne bauen lassen. Sie ist ein orientalischer Bordelltraum in Rot. Giuseppe Palella hat ein opulentes Kostümfest zwischen britischem Hof- Dresscode des frühen 19. Jahrhunderts (Gainsborough lässt grüßen) und exotischen Opera-Seria-Barock-Kostümen angerichtet, in Samt und (Kunst-) Seide, verschwenderischen Perlen- und Juwelenimitations-Applikaturen und Brokat. Es wird nicht gespart mit reichlich Schminke, falschen Brüsten und angeklebten Wimpern, Talmi, Strass und Glitzerpailletten. Jede (falsche) Frau ist ein Transentraum.
Im Zentrum der Handlung steht für Cencic die Liebesgeschichte zwischen Poro und Cleofide. Es wird denn auch an Anzüglichkeiten nicht gespart. Ein goldener Riesenpenis wird mehrfach über die Bühne getragen (gestoßen), ein nackter Mann darf im Hintergrund sehr ungeniert tierisch eine Dame penetrieren. Da bleiben keine Fragen. Viel Lenden-Rhythmik auch sonst. Cencic präsentiert das erotische Tohuwabohu zwar turbulent, mit Witz und Ironie, aber doch grell, überzogen und klamottig. Es darf (es soll) gelacht werden. Man chargiert, dass sich die Balken biegen. Man spielt wie im Komödienstadel, kein Klamauk wird ausgelassen. Nichts gegen Karikatur und Parodie, aber gelegentlich eingestreute musikalische Parodien etwa aus Rigoletto oder der Zauberflöte (eine Arie der Königin der Nacht wird als Travestienummer dargeboten) hätten wirklich nicht sein müssen. Auch die permanenten Tänzeleien und Tändeleien nicht, die Cencic dem indischen Choreografen und Performer Sumon Rudra anvertraut hat, der als Spezialist für Bollywood-Tänze gilt, also Tänze, wie sie im Indischen Film, im Hindi-Film üblich sind (Bollywood ist eine Wortkreuzung aus Bombay und Hollywood). Die Tanztruppe ist zwar nicht schlecht, gibt ihr Äußerstes, aber weniger an Aufwand wäre zweifellos mehr gewesen.
Das Besondere an diesem Stück ist, dass es bei der Uraufführung 1730 in Rom ausschließlich für Männer besetzt wurde. Damals herrschte im Kirchenstaat ein strenges Aufführungsverbot für Frauen. Bei der Uraufführung sangen natürlich Kastraten. In Bayreuth hat man ein Ausnahme-Ensemble von vier Countertenören, einem Sopranisten und einem Tenor aufgeboten, das wirklich außergewöhnlich ist. Herausragend sind Maayan Licht als Alessandro und Bruno de Sá als Cleofide. Man könnte sie stimmlich für eine echte Frau halten! Die beiden sind geradezu sensationell. Franco Facioli hingegen, einer der meist beschäftigten „Kapaune“ hat stimmlich schon hörbar Federn gelassen. Dennoch, alle Sänger der Aufführung sind erstklassige Barockspezialisten. Man könnte von einem Feuerwerk an virtuosem Barock-Gesang sprechen, wenn die Herren Damen nicht gelegentlich etwas die Kontenance verlieren, aus der Rolle fallen und allzu klischeehaft Tunte spielen (und zuweilen kreischige Töne absondern) würden. Es darf auch schon Mal der einen oder anderen Dame die Perücke heruntergerissen werden, um sie als Mann zu entlarven. Cencic hat dem Affen szenisch etwas zu viel Zucker gegeben.
Immerhin hält die energische polnische Dirigentin Martyna Pastuszka (über ihre historische Informiertheit gehen die Meinungen auseinander) mit dem engagierten Orchester des Bayreuther Barock Opernfestivals die musikalischen Fäden des langen Abends zusammen.
Allem Für und Wieder der Aufführung zum Trotz: Die Ausgrabung dieser Oper hat sich gelohnt, denn sie ist musikalisch einfach hinreißend, ein Juwel der neapolitanischen Oper, wenn auch von Wagnerscher Länge, eine Da-capo-Arie jagt die nächste, Tanzrhythmen und Balletti, auch Schlachtmusiken bezaubern, ebenso Duette, Ensembles und Chöre von feiner Qualität. Die Aufführung ist zweifellos spektakulär, sowohl was die kulinarische Ausstattung, als auch die superben Gesangsleistungen angeht. Für jeden Feind des Regietheaters dürfte sie eine Sternstunde sein, für jeden Freund eines tieferen Verständnisses (und der Wahrheit) von Oper allerdings eine Zumutung und von großer Langeweile, denn pure Überwältigung durch Ausstattungs- und Dekorationspomp (an der noch so luxuriösen Oberfläche) ersetzt keine interpretatorische Beglaubigung. Dennoch hat die Aufführung dem Publikum gefallen, es war außer Rand und Band vor Begeisterung.