Nur noch fünfeinhalb Wochen sind es bis zur Premiere von „Götterdämmerung“, mit der sich Richard Wagners „Der Ring des Nibelungen“ an der Oper Chemnitz zum 875-Jahre-Stadtjubiläum rundet. Vier Regisseurinnen widmen sich den vier Werken. Auf das Lauf- und Versandhaus Nibelheim im „Rheingold“ und eine „Walküre“ ohne Schwert und Speer zeigt Sabine Hartmannshenn in „Siegfried“ jetzt Extrembrutalitäten gegen Frauen: Intelligenter Feinschliff und flaches Fresko im ständigen Wechsel, auch musikalisch.
Von den tiefgrünen Stämmen hinter der nicht vorhandenen Schmiede lasse man sich nicht täuschen. Diese viereckigen Säulen werden nach hinten immer undurchdringlicher: Wald als Ort der Bewährung, von Initiationsriten, von Kämpfen mit sich selbst und dem Sein ist hier der Schauplatz von Richard Wagners „Siegfried“. Dieses immer arg düstere Raumgebilde belebt Lukas Kretschmer in bemerkenswerter Personalunion von Bühnenbild und Choreographie durch eine Gruppe stummer Mitakteure unter Kapuzenmänteln. Später sind sie der Schweif des Drachen Fafner, der hier einen Nibelungenhort aus Goldmasken, mit denen sich alle Wesen tarnen, hütet. Diese Schar steht starr und stramm, wenn sich der „hehrste Held der Welt“ an die symbolisch nackte Brünnhilde heranmacht wie ein Lausbub an die Kirschen in Nachbars Garten.
Immer wieder zeigt die Regisseurin Sabine Hartmannshenn mit Lukas Kretschmer pantomimisch das Handicap von Wotans in „Die Walküre“ gefasstem großen Plan, dieser hier schreiend zugespitzten Lieblosigkeit ohne Triebverzicht. Das ideale Paar eine schöne Illusion: Deshalb wird zum emotionalen Höhepunkt, wenn sich Brünnhilde unter Aufbietung aller psychischen Energien vormacht, dass der so erfrischend naive und dabei dreiste Jungspund Siegfried ein nur gutgemeintes Göttergeschenk ist. Diese Szene treibt vor „Leuchtende Liebe, lachender Tod“ aus einer glutvollen Erregungskurve in die befeuerte Endspurtphase.
Poetisch Bezwingendes wie die letzte Begegnung des Göttervaters mit der Weisen Erda (und Simone Schröders vital-dramatischem Mezzosopran) steht neben einem zu wenig durchdachten Umgang mit dem Bühnenraum. Einige offene Verwandlungen wirken wie Notlösungen und zwangen offenbar zu Brüchen, etwa wenn der von Wotan abgemurkste Waldvogel schleunigst von der Bildfläche muss. Sabine Hartmannshenn will sehr, sehr viel: Sie macht die Persönlichkeitsentwicklung des elternlosen und seine Identität suchenden jungen Siegfried vom Einzel- zum Musterfall. Gleichzeitig bringt sie, wie bei der großen Feuerzauber-Reminiszenz am Walkürenfelsen, zu der Wotan Brünnhilde hier nochmals in Schlaf versenkt, in starken Ergänzungen zu Wagners sinfonischen Entwicklungen Einst, Jetzt und Dereinst zum Verfließen. Stellenweise mit Poesie, die sie allerdings mit extremen Gewaltattacken gegen Frauen überformt.
Schon im stummen Prolog rammt der Schmied Mime Sieglinde den Hirschfänger in den hochschwangeren Leib, auf den gequälten Schrei des Säuglings Siegfried erklingen die ersten tiefen Streichertöne. Der Wut-Zwerg Alberich zeigt später seinem kleinen Sohn die Gräueltaten der Gegner. Natürlich ohne sachliche Zusammenhänge und so nährt er im Nachkommen abgrundtiefen Hass. Ist es Hagens Mutter Grimhild, die Alberich erst an einem Baum penetriert und die der kleine Hagen dann mit Fußtritten zermatscht? Solche Reizmomente unterbrechen Dialogszenen. Siegfried mümmelt zwischen den Pranken des von ihm erlegten Riesenbären und bei der Wissenswette zieht Mime ein Netz aus magischen Fäden um sich. Wotan zwingt diesen Gegner am Tischlein-deck-dich mit Kandelaber und prallen Prachtschinken darnieder.
Susana Mendoza uniformiert die omnipräsente Riege alter Männer als tätowierte Schamanen mit Wallehaaren und Tätowierungen – oder Nerds aus der Arbeitswelt: Beim Wanderer und Fafner grüßt Tolkien, bei Alberich und Mime grüßt Brecht. Dieser „Siegfried“ spart in der Düsternis nicht an Kontrasten: Spröder Gedankenreichtum und aufgeputschter Aktionismus wechseln.
Felix Bender, der in diesen Wochen seine neuen Aufgaben als ständiger Gastdirigent der Oper Leipzig beginnt, und die Robert-Schumann-Philharmonie besinnen sich trotzdem wie schon in „Die Walküre“ auf ihr Gütesiegel: einen dramatisch affinen und dabei sinnig-schönen Wagner-Klang, der in der Mitte des Abends auch zu Sattmachern greift. Denn das so sicher nicht geplante vokale Kräftemessen setzt sich im Graben fort, wird von dort leider nicht gebremst. Sportliche Dynamik zeigen Arnold Bezuyen (Mime) mit Intensität und Ralf Lukas (Wanderer) mit Schönklang. Das ist bei der Transparenz der Robert-Schumann-Philharmonie und dem von beiden Sängern oft bewiesenen Differenzierungsvermögen allerdings unverständlich. Diesen Leistungspaketen eifert der Rollen-Frischling Daniel Kirch als Siegfried mit spendablem Frohsinn und Freude an Wagners unendlicher Melodie nach. Daniel Kirch muss sich weder vor Erschöpfung noch vor Verausgabung fürchten. Mit immer geschmeidiger und nicht versiegender Stimmpotenz durchmisst er diese Riesenpartie. Wie sich Wagner die Synthese von Wort und Ton eigentlich vorstellte, hört man an diesem Abend deshalb vor allem von den Episoden-Partien: Björn Waag ist ein eiskalter Alberich, Avtandil Kaspeli der bewegend sterbende Fafner und Guibee Yang ein Waldvogel mit Federboa und Liebreiz, der mit Siegfried ein zauberhaftes Paar abgeben würde wie Papagena mit Papageno.
Starker Applaus, Begeisterung und der hohe Anteil angereister Besucher bestätigen die Anziehungskraft dieses „Rings“ in den Inszenierungen von vier Regisseurinnen, denen das Fürchten vor den inneren Widersprüchen in Wagners Tetralogie fremd ist. Das ist spannender und sinnvoller als ein vor Ehrfurcht starrer Blick.
- Siegfried – wieder am 10.11.2018 – 19.01. (im „Ring“-Zyklus 1), 20.04. (im „Ring“-Zyklus / Ostern), 08.06.2019 (im „Ring“-Zyklus / Pfingsten)