Die Presseabteilung der Britzer Sommeroper hatte gewarnt, diese Produktion werde „erst ab 16 Jahren empfohlen“ – aber ungeachtet dessen besuchten erstaunlich viele Kinder die Premiere von Joseph Haydns Opera semiseria „Orlando Paladino“. Schließlich spielt in der Neufassung, die den Titel „Orlando, der rasende Ritter“ trägt, ein Kind die Schlüsselrolle der Zauberin Alcina, von der jungen Eila Min Thi Edelmann, mit Mikroport verstärkt, mehr gesprochen als gesungen.
Man könnte die Warnung als „komisch-heroischen“ PR-Gag deuten, zumal die rundwegs jugendfreie Produktion im Gegensatz zu vorangegangenen Produktionen beim Festival Schloss Britz, in erster Linie kindliche Gemüter anspricht, während die Besucher der Berliner Opernbühnen in jeder Hinsicht stärkeren Tobak gewohnt sind.
Vor einem Rund aufgestellter roter Buchstaben (wie 1979 in Hans Neuenfels’ legendärer Frankfurter Inszenierung von Franz Schrekers „Die Gezeichneten“!) gerät die Premiere zunächst zur Vorwahlkampfveranstaltung der Neuköllner Bezirksbürgermeisterin Franziska Giffey, die in ihrer Ansprache („Da wartet man das ganze Jahr, und dann ist sie wieder, die Premiere!“) den Eindruck vermittelt, als sei die Opernproduktion eine schulische Leistung der Musikschule Paul Hindemith Neukölln. Tatsächlich bilden deren Lehrkräfte – mit vier ersten und zweiten Violinen, zwei Bratschen und Celli, einem Kontrabass und einer Flöte, sowie zweifach besetzter Oboe, Fagott und Hörnern, das für Haydns Partitur adäquate Instrumentarium; ein im Lehrkörper fehlendes Schlagwerk ersetzt einmal die Pauke schlagende Oboistin und mehrfach ein Darsteller im Spiel, mit Schlägen auf kleine und große Trommel. Verzichtet wird auf die zwei Clarini, doch einmal gelingt es den beiden Hörnern in extremer Lage, tatsächlich nach Trompeten zu klingen. Donnergrollen wird bisweilen elektroakustisch eingespielt.
Versierter Dirigent ist wieder der Fachbereichsleiter für Streicher- und Orchesterarbeit, Stefan R. Kelber. Und seine Gattin Andrea Chudak verkörpert, wie in den vorangegangenen Produktionen der Sommeroper, erneut die weibliche Hauptpartie.
Wieder zeichnen Bettina Bartz und Werner Hintze, die lange Jahre zugespitzte deutsche Übersetzungen an der Komischen Oper Berlin verfasst hatten, für die neuen Gesangstexte verantwortlich, Bartz und die Regisseurin Tatjana Reese darüber hinaus für die neuen Dialoge („Asylantrag, wie all die anderen Europäer, die hier nach Syrien kommen!“). Der Witz hält sich in Grenzen („Was mich umgibt, ist der blanke Horror“), er nutzt doppeldeutige Anspielungen („Ton, Steine, Scherben!“), heutige Ausdrucksweisen („rede du dummes Luder, sonst schlitze ich dich auf!“) und gesungene Nonsens-Reime („Ich schlage wie ein Blitz ein, und das wird kein Witz sein“ oder „Danke schön, Herr Dirigent, und ein schönes Happy-End!“)
Die auf Ariosts Epos fußende, in Libyen angesiedelte Geschichte vom rasend in die chinesische Königin verliebten Ritter Roland hat die Regisseurin behutsam ins Heute verfrachtet, wo in Pia Wessels Ausstattung ein Kampf zwischen Polizei-Plexiglasschild und Negativ-Druckplatten-Blechschild erfolgt oder die in der Bühnenmitte aufgebockte Drehscheibe von den Darsteller*innen als rotierende Table Dance-Fläche betrieben wird.
Nach der Pause ist die Buchstaben-Runde um ein wallend herabhängendes, blaues Tuch ergänzt, gleichzeitig Meer und Liebeshöhle, dann auch – im Natriumdampflicht – die Haut eines schwarzen, von allen Akteuren bewegten Drachen.
Rodomonte, König von Algerien, mit Turban und Ayatollah-Bart (Tobias O. Hagge), trägt einen orthopädischen Kniepanzer und stützt sich zunächst auf eine, dann auf zwei Gehhilfen. Der durch das Buchstabenrund irre auf die Szene stürzende Roland (Matthias Jahrmärker, mit der gesanglich rundesten Leistung) ruft als running Gag aus: „Es ist Krieg!“.
Auf chinesischen Kothurnen gestaltet die Sopranistin Andrea Chudak die Königin von Katei, Angelica, hier Ange-Li-Ca genannt, als das weiblich rasende Pendant, rollendeckend mit hysterisch schrillen Tönen. Ihrem wankelmütigen Geliebten Medoro (hier: Med’Oro) leiht Julian Rohde einen in der Mittellage kernigen, in der Höhe äußerst dünnen Tenor.
Katrin Geisler gibt die Schäferin Eurilla als verschleierte Muslimin. Ihre – allerdings zur Entschuldigung für schräge Töne kaum dienliche – Selbstbefriedigung mit einem Besen beinhaltet womöglich mehr Potenzial an Islam-Kritik als Uwe Erik Laufenbergs gesamte und daher mit so hohem Polizeieinsatz abgesicherte Bayreuther „Parsifal“-Inszenierung.
Als Orlandos Knappe Pasquale fängt Fabian Martino zu tiefe Intonation durch Ironie auf. Der sympathische Darsteller singt gerne mit einem Zinkeimer auf dem Kopf, der allerdings weder den Klang seiner Stimme zu intensivieren, noch den im ersten Teil immer wieder angesprochenen Hunger des harlekinesken Dieners zu erklären vermag. In Ergänzung vokaler Quintenschleudern schlägt er mit Paukenschlegeln auf die eigene Rüstung und pfeift im Zwischenspiel seiner Arie.
Leider durch Verstärkung unverständlich bleibt der Text der gesplitteten Rolle des hier, im ehemaligen Kuhstall des Britzer Schlosses, mit Kuhkopf auftretenden Fährmanns Charon (Björn Wunsch/Tobias O. Hagge ).
Wer angenommen hatte, die großen roten Buchstaben würden noch zu der im Programmheft postulierten Parole „Make love, not war“ verschoben, irrte – es blieb bei „MAKE WAR NOT LOVE“.
Das hinter der Szene beachtlich sauber aufspielende Orchester, ohne Basso continuo, macht unter Kelbers Leitung nachvollziehbar, warum „Orlando Palatino“ mit der Uraufführung 1782 in Eszterháza zu Haydns erfolgreichster Oper wurde. Nach dem Tod des Komponisten bis in die Dreißigerjahre des vergangenen Jahrhunderts vergessen, feiert sie im 14. Jahre des Festivals Schloss Britz derzeit neue Urständ.
Die unter Verzicht auf Rezitative und auf die Partie des Schäfers Licone zu einer Aufführungsdauer von knapp drei Stunden (inklusive Pause) verkürzte komisch-heroische Oper wurde am Premierenabend im „Kulturstall“ des Britzer Schlosses einhellig gefeiert.
- Weitere Aufführungen: 27.8., 28.8., 2., 3. und 4.9.2016.