Die Opernhäuser in deutschen Landen, aber auch außerhalb unserer Grenzen stöhnen über Sparmaßnahmen ihrer Geldgeber, über Premierenstornierungen, Chor-und Orchesterverkleinerungen. Da darf man denn staunen, was trotz dieser Restriktionen besonders in den letzten Wochen überall an Ur- und Erstaufführungen herausgekommen ist. Über einige der neuen Werke berichten wir in dieser Ausgabe: über Pascal Dusapins „Perelà“ in Paris, Michèle Reverdys „Medée“ in Lyon, Awet Terterjans „Das Beben“ in München und, auf dieser Seite, über Manfred Trojahns „Limonen aus Sizilien“. In der nächsten Ausgabe folgen Berichte über Pierre Bartholomées „Oedipe sur la route“ in Brüssel, Azio Corghis „Senja“ in Münster, O. Frandsens „IKON“ in Kopenhagen, Franz Koglmanns „Fear Death by Water“ in Wien, Kääräs „Osiris“ in Helsinki, Ian Wilsons „Hamelin“ in Flensburg sowie über die zweite Inszenierung von Peter Ruzickas „Celan“ an der Mainzer Oper.
Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist, spielt weiter: so sinniert der verliebte Herzog in Shakespeares schwermutsgetönter Komödie „Was ihr wollt“ zu Beginn: Ein Grundklang wird angeschlagen. „Komponieren ist für mich vor allem ein lustbetonter Prozess“ – so verkündete der Komponist Manfred Trojahn einmal in einem Gespräch. Trojahn, inzwischen ins sechste Lebensjahrzehnt eingetreten (Jahrgang 1949), bewegt sich unverändert jünglingshaft und verliebt in alles, was schön ist, in seinen Ideallandschaften, in Shakespeares imaginärem Illyrien ebenso wie äußerst konkret in Italien. Shakespeare huldigte er mit seiner abendfüllenden Oper „Was ihr wollt“ (siehe oben!), an Italien fasziniert ihn besonders das Theater und hier wiederum die nationale Originalerfindung der Gattung Oper. Charakteristisch für Trojahn ist dabei, dass er sich für sein (italienisches) Bühnenentree nicht ein beliebiges Schurkenstück wählte, sondern das höchst komplexe und komplizierte Pirandello-Verwirrspiel um „Enrico“, jene Figur, die glaubt, der Salierkaiser Heinrich IV. zu sein. Hier fand Trojahn alles, was er für ein Opernlibretto als notwendig erachtet: eine spannungsvoll verrätselte Handlung, die sich zugleich für musikalische Korrespondenzen und Intensivierungen öffnet, und eine Handlung, die jedem kruden Realismus abschwört, vielmehr ein künstliches, hochartifizielles Figurenspiel vorführt, in dessen Aktionen sich das so genannte gesellschaftlich Relevante in kühl beobachtender Distanz widerspiegelt.
Dem italienischen Theater ist auch Manfred Trojahns jetzt in Köln uraufgeführte neue Oper treu geblieben. Puccinis „Trittico“ vor Augen und im Hinterkopf entschloss sich der Komponist zu einem Einakter-Projekt. Seinem Librettisten Wolfgang Willaschek schickte er drei Dutzend italienischer Stücke, aus denen schließlich drei für die Oper ausgewählt wurden: Luigi Pirandellos „La morsa“ und „Lumie di Sicilia“ sowie von Eduardo De Filippo „Amicizia“. Der Titel der zweiten Pirandello-Adaption gab der Drei-Einakter-Oper den übergreifenden Titel: „Limonen aus Sizilien“. Doch spielen besagte Früchte auch in den beiden anderen Werken, in „Der Schraubstock“ (La morsa) und „Eine Freundschaft“ (Amicizia), eine dramaturgisch und motivisch wichtige Rolle. Wolfgang Willaschek formte und strukturierte die drei Geschichten so, dass sie in ihrem theatralischen Gestus, in der Art der Figurenzeichnung und Figurenverknüpfung wie eine Einheit wirken. In „Der Schraubstock“ erlebt man eine typische Dreieckskonstellation: Frau zwischen Ehemann und Liebhaber. Scheinbar zufällig erzählt der Ehemann von einem anderen Ehebruch in der Umgebung. Unerbittlich treibt der Mann das verdeckte Verhör voran: The Turn of the Screw – die Drehung der Schraube: Man wird an Brittens gleichnamige Oper erinnert. Als der Mann schließlich der Frau androht, ihr die gemeinsamen Kinder zu nehmen, erschießt sie sich. Lapidarer Schlusssatz der beiden Männer: Du hast sie umgebracht. Zynischer kann die typische Schuldzuweisung nicht formuliert werden.
Im zweiten Stück erscheint der inzwischen erwachsene Sohn aus der zerrütteten „Schraubstock“-Ehe. Micuccio, so heißt er, hat einst seiner Jugendliebe ein Gesangsstudium ermöglicht. Sie ist ein berühmter Star geworden, doch Micuccios Versuch, die alten Gefühle und Beziehungen noch einmal zu beschwören, scheitert: Er trifft auf eine völlig veränderte Person, die ihn kaum noch wahrnimmt. Verschiedene Motive fließen hier zusammen: der Verlust einmal sicher geglaubter Gefühle, die Veränderung des Menschen durch die Zeit, auch die Gefährdung des Theater-Opern-Künstlers durch die Entfremdung des eigenen Selbst. Das ständige Existieren in Rollen-Hohlformen bleibt nicht ohne Folgen für die individuelle Persönlichkeit. Der Rest ist Zerrüttung: Micuccio, alt und verbittert geworden, will von der einstigen „Freundschaft“ mit Alberto nichts mehr wissen. Er verlangt, geistig verwirrt, nach einer früheren, schon verstorbenen Geliebten. Zusammen mit der Schwester Micuccios spielt Alberto in Verkleidungen die Personen vor, nach denen sich Micuccio sehnt: das alte Spiel von Sein und Schein. Zynisch offenbart Micuccio seine früheren Beziehungen zu Albertos Frau und dass deren Sohn von ihm ist. Alberto bricht zusammen: Klappe! Aus! Die drei Geschichten sind nicht realistisch-psychologisch konzipiert, sie zeigen vielmehr Situationen aus dem Menschenleben – wie das Leben so spielen kann. Die Mechanistik bestimmt die Dramaturgie, der kühle Blick auf Figuren und Konstellationen. Die Bühne von Ulrich Schulz schafft die notwendige Distanz für die Beobachtung: Das Orchester sitzt auf der Szene, agiert wird davor auf der Vorderbühne sowie auf einer installierten kleineren Guckkastenbühne hoch über dem Orchester, was den Aktionen etwas Spielzeugartiges, Verfremdendes verleiht. Günter Krämers Regie führt die Figuren in diesem Sinne bei gelegentlichen „Rückfällen“ in ein zu realistisches Spiel.
Manfred Trojahns Musik zeichnet sich durch einen distinkten Gestus aus: Sie stützt, strukturiert, kommentiert die Aktionen. Sie entwickelt eine schöne Beweglichkeit, Feingliedrigkeit und, wo angebracht, auch dramatische Schlagkraft. Sie lullt nicht ein, sondern akkompagniert hellwach und klangsensibel die szenischen Vorgänge und Personen.
Die vokalen Lineaments werden plastisch gezogen, die Sänger dürfen sich über viele Gelegenheiten zu geschmeidiger Stimmentfaltung freuen: Melanie Walz, Thomas Mohr, Andrew Collis, Daniel Kirch, Martin Finke und Julie Kaufmann nutzen es bestens. Das Gürzenich-Orchester unter Jürg Henneberger wirkt souverän, trifft den Stil der Musik ausgezeichnet. Nach einer Stunde und zehn Minuten ist Trojahns „Kleines musikalisches Welttheater“ vorüber. Zu kurz? Vielleicht komponiert er noch eine vierte, fünfte Geschichte hinzu? Damit sich das Panorama zum Kosmos weitet.