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Mangel an Tiefgang und dramatischer Gestaltung

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Nicholas Maws Oper „Sophie’s Choice“ wurde in London uraufgeführt
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„Sophie’s Choice“ – zuerst ein Roman (William Styron), dann ein Film – beides amerikanischer Provenienz – und jetzt auch noch eine vieraktige Oper mit 210 Minuten Musik aus der Feder des 67-jährigen englischen Komponisten Nicholas Maw. Das Auftragswerk des dritten Radioprogramms der British Bradcasting Corporation (BBC) gemeinsam mit Londons Royal Opera House erlebte dort am 7. Dezember vergangenen Jahres seine Uraufführung.

Man hatte zuvor die Werbetrommel tüchtig gerührt, hatte die Eintrittspreise erheblich verringert und wartete zudem mit einem künstlerischen Team auf, das höchste Erwartungen versprach. Die fünf Vorstellungen waren ausverkauft und das Publikum tobte vor Begeisterung. Man hatte es ihm allzuleicht gemacht. 16 Szenenwechsel in dem brillanten Design von Rob Howell hielten das Auge gefangen; die Musik verschaffte sich lediglich in den Zwischenspielungen Geltung und überdeckte nie die Gesangslinien, was dem banalen Libretto zu bester Verständlichkeit verhalf, und zusätzliche Textprojektionen sorgten dafür, dass jeder dem Geschehen folgen konnte. Trevor Nunn führte Regie und am Pult stand mit Simon Rattle, der Darling der Nation. Die Story handelt von der jungen polnischen Katholikin Sophie, die in Auschwitz zwar ihre beiden Kinder verlor, selbst aber überlebte und inzwischen im New Yorker Stadtteil Brooklyn verzweifelt zwischen einem Neubeginn und den Erinnerungen an ihre grausame Vergangenheit pendelt. Dort lebt sie in einer Pension mit dem in seinen Gefühlsausbrüchen unberechenbaren, schizophrenen Nathan (Rodney Gilfry) zusammen; zu ihnen gesellt sich Stringo (Gordon Gietz), ein junger, idealistischer und unbedarfter Mann aus den Südstaaten, der in New York sein Heil als Schriftsteller sucht, sich in Sophie verliebt und durch sie mit den an ihr vergangenen Verbrechen des Dritten Reiches konfrontiert wird. Vor die Wahl gestellt, mit ihm auf der Familienfarm in Virginia ein neues Leben zu beginnen oder gemeinsam mit Nathan aus dem Leben zu scheiden, zieht sie den Selbstmord vor.

Dies ist sicherlich ein Opernsujet von extremer Explosivität. In der Realität geriet jedoch so ziemlich alles daneben; wenn Simon Rattle behauptet, dass es sich hier um die beste englische Oper seit 50 Jahren handelt, dann muss man seine Urteilsfähigkeit in Frage stellen. Der größte Fehler lag zweifelsfrei darin, dass Nicholas Maw aus den Romandialogen sein eigenes, endloses und zumeist schrecklich auf der Oberfäche dahin plätscherndes Libretto zusammenstellte. Hätte ein Dramatiker vom Format eines Harold Pinter die Thematik knapp und mit Tiefgang für die einzelnen Charaktere im Sinne von zum Beispiel „Wozzek“ bearbeitet und damit jede erzählende Epik vermieden, wäre die Basis für eine musikalische Herausforderung gelegt worden.

Statt dessen entstand eine triviale Aneinanderreihung von Begegnungen und Begebenheiten, die selbst vor dem zweifelhaften szenischen Rückgriff auf Vergangenes nicht zurückschreckte. Dabei gerieten die Geschehnisse in Auschwitz zu kaum noch berührenden Klischees. Warum sich Nicholas Maw dazu entschloss, dem angehenden Schriftsteller Stringo in Gestalt eines ständig anwesenden Erzählers (Dale Duesing) ein älteres Alter Ego zur Seite zu stellen, verwirrte ebenso wie der Mangel an Tiefgang und dramatischer Gestaltung der drei Protagonisten. Weiter kam man nicht darum herum, der handwerklich gekonnten, doch keineswegs packenden Partitur jede dramatische Prägnanz abzusprechen. Diese Musik rüttelte niemanden auf; aus ihr sprachen vielseitige und durchaus legitime Anleihen, was ihre Zugänglichkeit um eine gewisse Vielseitigkeit erweiterte. Doch offerierte sie sich dem auf neue musikalische Zwangsläufigkeiten erpichten Hörer derartig flüssig, dass sie zum einen Ohr hinein und zum anderen Ohr schnell wieder hinausfloss, ohne irgendwelche Wirkung außer Langeweile zu hinterlassen. Nicholas Maw ist in England vorrangig durch seine ebenfalls von Simon Rattle geförderte und von ihm auch eingespielte epische Symphonie „Odyssey“(100 Minuten) bekannt; bei allen guten Absichten ist er sicherlich nicht dafür prädestiniert, ein Bühnendrama noch dazu von derartiger Realitätsbezogenheit zu bewältigen. Bis auf den großartigen Einsatz der Solisten, darunter vorrangig das Hausdebut von Angelika Kirchschlager in der Titelpartie, ging nichts unter die Haut. Vielmehr sah man sich mit sentimentalem Kitsch amerikanischer Prägung konfrontiert, zu dem sich die Musik als eine im besten Fall unterhaltende Filmpartitur anpasste.

Der Erinnerung an die Uraufführung von Harrison Birtwistles genialem Musikdrama „Gawain“ am 30. Mai 1991 am gleichen Haus stand mit „Sophie’s Choice“ ein schwer verdaubares Debakel gegenüber.

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