„Letztendlich wurde die Klassik von den Komponisten im Stich gelassen. Ohne eine neue Musik, die intelligente, sensible Konsumenten hören wollten, blieb nur die Möglichkeit, das Vergangene wieder aufzuwärmen“. Wie bitte? Für die schwindenden Absatzzahlen des Klassiksektors und dessen extreme Verengung auf ein winziges Kernrepertoire sei die neue Musik schuld?
Die zeitgenössischen Komponistinnen und Komponisten hätten einfach nichts geliefert, was man in größerem Maßstab hätte produzieren und konsumieren können, so dass die Majorlabels eben auf der armen Klassik hätten sitzen bleiben müssen? Urheber dieser irren Geschichtsverdrehung ist der ehemalige Sony-Produzent Michael Haas. Zitiert wird er in Norman Lebrechts Buch „Ausgespielt: Aufstieg und Fall der Klassikindustrie“ (Schott 2007).
Den Anfang vom Ende verursachten freilich von innen heraus die Überproduktion vieler dutzender Aufnahmen derselben Symphonien von Beethoven, Dvorák, Mahler… sowie die nicht abnutzbare Abspielqualität der seit Anfang der 1980er Jahre auf den Markt gebrachten Compact Disc, die dann ihrerseits durch Downloads und Online-Streamings im Internet verdrängt wurde. Schützenhilfe bei Haas und Lebrecht holt sich auch Irmgard Jungmanns „Sozialgeschichte der klassischen Musik“ (Metzler 2008). Danach hat Popmusik die größten Marktchancen, denn diese habe „ihre Fähigkeit zu musikalischer Entwicklung, zur Innovation, zum Experimentieren mit Althergebrachtem ebenso wie mit Neuem unter Beweis gestellt“. Ohne „Behinderung durch ästhetische Bedenken“ würden dort Bach, Gregorianik, Minimal Music, Indische Kunstmusik und jede Art von Folklore verarbeitet sowie neue Stile wie Rock, Rap, Techno, Hiphop geschaffen.
Bevor sich diese Narrative weiter festsetzen, ist klarzustellen, dass auch die genannten Popstile längst nicht mehr taufrisch sind. Und wie die „U-Musik“ hat sich die sogenannte neue „E-Musik“ selbstverständlich weiterentwickelt, mit oder ohne „ästhetische Bedenken“. Im Gegensatz zur Popmusik fristet die neue Musik mit kleinem Publikumskreis aber nur ein „vergleichsweise kümmerliches Dasein im großen Weltmarkt der Musik“. Ein weiterer Unterschied liegt wohl auch darin, dass die meiste neue Musik nicht passgenau für den Markt designt wird, sondern einfach aus künstlerischem Ausdrucksbedürfnis entsteht. Ihre daraus folgende Vielfalt, Eigenheit und Andersheit hätte nur von intelligenten und sensiblen Produzenten rechtzeitig erkannt, publik gemacht, beworben und vermarktet werden müssen. Da die Medienbosse das jedoch unterließen, haben wohl sie die Komponisten im Stich gelassen, indem sie immer wieder nur das Vergangene aufwärmten.
Uraufführungen:
- 02.–06.02.: Eclat-Festival Stuttgart mit neuen Werken von Gordon Kampe, Oscar Bianchi, Annesley Black, Chaya Czernowin, Carola Bauckholt, Elizabeth Hobbs, Simon Løffler, Laurence Crane, Trond Reinholdtsen, Lisa Streich, Saed Haddad, Ying Wang, Volker Heyn, Steven Takasugi, Jessie Marino, Isabel Mundry, Robin Hoffmann, Oxana Omelchuk, Milica Djordjevic, Andreas Eduardo Frank, Alla Zagaykevich, Andreas Dohmen, Anna Sowa, Clara Iannotta u.a.
- 06.02.: George Lewis, neues Werk, Sprengel Museum Hannover
- 18.02.: Ludger Vollmer, Der Tigerprinz für Sprecher und Orchester, Tonhalle Düsseldorf
- 24.02.: Christian Jost, Nocturnal Movements, Berliner Philharmonie
- 25.02.–05.03.: cresc… Biennale für aktuelle Musik Frankfurt Rhein Main mit neuen Werken von Páll Ragnar Pálsson, Elena Rykova, Pablo Garretón, Katherine Balch, Omer Barash u.a.