Schräg und weit ragt die Baustelle den Zuschauern entgegen. Susanne Gschwender ließ den kleinen Orchestergraben des aus der Mitte des 18. Jahrhunderts stammenden Schwetzinger Rokokotheaters mit einer Installation aus Schalbrettern überbauen. Das Gerippe kann auf drei Etagen bespielt werden. Ordentlich stabil sehen die Leitern aus und die Gefahrenstellen sind TÜV-gerecht gesichert.
Die halbfertige Konstruktion erinnert an die Art und Weise, in der vor einem halben Jahrhundert Stahlbetonpfeiler und -decken für Büro- und Geschäftshäuser ausgeführt wurden – erkennbar noch mit viel sorgfältiger Handarbeit und in diesem Fall ausschließlich mit neuen, säuberlich gehobelten Balken, Brettern und Brettchen. Es waltet offensichtlich eine Ästhetik des positiven Werdens – keine Spuren von Trümmern, Zerstörung, Dekonstruktion oder branchenüblicher Fehlplanung.
Die Arbeit am Bauprojekt aber ruht. Hinter dem nostalgisch-schönen Konstrukt, das an die Aufbruchs- und Wirtschaftswunderjahre nach dem letzten Krieg erinnert, arbeiten hingegen Mitglieder des SWR-Orchesters, das in Stuttgart aus derselben historischen Phase überlebte und nun seine Leistungsfähigkeit auch mit einer hochkomplexen Partitur unter Beweis stellt. Erhebliche Vibrationen gehen von der Kapelle aus – vom glänzend blechgestützten Tutti bis zu den einzelnen Tableaus des strukturierend geschichteten Tonsatzes oder zu solistisch trillernden Flötensoli. Hèctor Para hat seine Partitur mit kalligraphischer Sorgfalt ausgeführt. Indem man dem Programmheft entnimmt, dass der katalanische Komponist seine Fortbildung sowohl bei Brian Ferneyhough einholte wie bei Jonathan Harvey, also beim Meister des „Komplexismus“ und bei einem schlicht gestrickten, stark religiös erweckten britischen Kompositionslehrer, glaubt man zu hören, dass bei der Ouverture die beiden konträren Vektoren des Tongetümmels – Komplexität und melodiös-harmonische Nostalgie – im edlen Widerstreit liegen. Das fängt ja gut an!
Weniger Glücksgefühle löst der Blick auf den Text aus. Händl Klaus gelangen schon Libretti mit plausibleren und triftigeren Handlungsgerüsten sowie einer Sprache mit höherer Treffsicherheit (Beispiel wäre die 2011 ebenfalls in Schwetzingen uraufgeführte Oper „Bluthaus“ von Georg Friedrich Haas). Diesmal entführt Händl nach „Neumünster an der Lau“. Er lässt – und wiederum ist der Name tief symbolisch – den aus dem Tritt geratenen und von traumatischen Erinnerungen heimgesuchten Lungenarzt Gunter aus Bleibach an einem Provinzbahnhof stranden. In seinem viel zu großen Silbermetallic-Koffer führt der „Arzt ohne Grenzen“ Operations- und Verbandsmaterial mit sich, dessen Verfallsdaten längst abgelaufen sind. Auf der Baustelle trifft er zuerst zwei Brüder Flick und später noch deren drei Schwestern sowie den Vater. In einer surrealen Handlung und mit einem verschärften Staccato der Aneinandervorbeiredenden werden existentielle Fragen gestreift. Es entlädt sich unmotiviert Gewalt, dann auch Liebesbedürfnis und Paarungswille. Kurz: Gunter aus Bleibach bleibt in Neumünster. Welch weltbewegendes Ereignis von breitestem Interesse.
Calixto Bieito bietet das Kammerspiel der „Wilden“, die so wild gar nicht sind, als Inszenierung für die Sommerfrische an. Kurzzeitig darf sich Schlagwut am Schalholz austoben. Auch werden Kleider vom Leib gerissen. Die älteste der Schwestern trägt drastische Blutspuren an den Brüsten und im Schritt. Doch gehen die optischen Verweise auf die Gewalttätigkeit von Alltagsbegegnungen, Erinnerungen und Sexualität lange nicht so weit wie in mancher der früheren Bieito-Inszenierungen. So ergibt sich ein musikalisch wie szenisch gut, jedoch nicht zu stark oder gar extrem gewürztes Konversationsstück, bei dem auch so manches Unverständliche geschnabbelt und manche nicht nachvollziehbare Geste vorgeführt wird (in dieser Hinsicht herrscht Realismus).
Das Ganze vermag weder zu beunruhigen (wie das ins Sterbezimmer führende Musiktheaterstück „Thomas“ von Händl und Haas, uraufgeführt 2013 ebenfalls in Schwetzingen) – noch zu entzücken (wie „Meine Biene – eine Schneise“ von Händl Klaus 2012 bei den Salzburger Festspielen – mit Schubert- und Brahms-Lied sowie der Musicbanda Franui aus Innervillgraten in Osttirol). Die drei männlichen Protagonisten stehen mit unterschiedlicher, vor allem hoher Stimmlage, ihrer von außenseiterischen Formen der Männlichkeit geprägten Mann – vornan Ekkehard Abele als der ins Nichts reisende Arzt. Die drei Schwestern erweisen sich als scharfe Repräsentantinnen ihres Geschlechts: die blumenbunt bekleidete, besonders willige und dann auch fast vollständig entkleidete älteste, die Mireille Lebel mit allen erdenklichen stimmlichen und optischen Attributen des Verführerischen ausstattet. Amarisol Montalvo verkörpert neben ihr die südländisch-temperamentvolle Frau („Die Sonne brennt“) und Lini Gong die senfscharf singende Chinesin: Sirenengesang mit Momenten der handfesten Erdung. Dieses Damentrio mit all seinen musikhistorischen Konnotationen – sie reichen bis zur „Zauberflöte“, den „Rheintöchtern“ und zur Eichendorff-Schumannschen „Mondnacht“ – ist vielleicht das, was von diesem Musiktheaterabend im Schwetzinger Schlossparktheater am nachhaltigsten in Erinnerung bleibt.