Sie hat ihre Heimat bestohlen und verraten; sie hat den Bruder zerstückelt; sie hat mit dem geliebten Mann zwei uneheliche Kinder; sie wird verlassen und gedemütigt; sie lässt die neue Nebenbuhlerin in Flammen aufgehen; sie ermordet ihre eigenen Kinder… diese Megäre namens Medea gibt es von Luigi Cherubini vertont mit französischen Dialogen sowie mit nachkomponierten Rezitativen auf Italienisch und Deutsch. In Stuttgart wurde ein neuer Zugang zu diesem antiken Tragödienhorror gesucht.
„Keine Angst, Leute, gegen euch habe ich nichts. Aber mit Iason habe ich ein Hühnchen zu rupfen“ - so tritt Medea in der neuen deutschen Textfassung von Dramaturgin Bettina Bartz und Werner Hintze auf. In ihrer großen Finalszene bezeichnet sie Iason dann auch mal als „falschen Hund“. Zu diesem Sprachniveau passend hat Ausstatter Johannes Leiacker vor einer bühnenweiten Plastikmüllwüste einen weiß gekachelten Küchenraum wie ein „Floß einer Gesellschaft am Ende“ gebaut: schon angeschmutzt, mit Besenkammer, Dosenregalen, Herd, Spüle und Kühlschrank. Darin bewegt sich eine knallbunt aufgetakelte Proll-Gesellschaft; Herrscher Kreon tritt als protziger Marionetten-Diktator mit Bodyguards auf, nimmt Iasons Hartschalenkoffer (mit dem „Goldenen Vlies“?) gierig entgegen und lässt dafür den im Text als „Asylanten“ Bezeichneten - Iason, seinen beiden Söhnen, Iasons Matrosenmannschaft - Pässe aushändigen; alle saufen durchgängig und dementsprechend rüde ist der Umgang mit „den Weibern“. Das gipfelt dann darin, dass Medea Kreon zunächst inständig um Bleiberecht anfleht, ihm dann durch Oralsex zumindest einen Tag abringt, sich den Mund in der Spüle auswäscht und eine Szene später schnell noch mal mit Iason auf dem Küchenboden schläft, ja sogar zu aufsteigenden Streicherfiguren ekstatisch auf ihm reitet.
Der Flammentod der neuen Iason-Braut Kreusa im vergifteten Kleid findet per ein wenig Rotlicht in einer Tür im Rundhorizont statt - befremdlich; Medeas Mord an ihren beiden Buben geschieht eher „un-erschreckend“ beiläufig; am Schluss tötet die wie ein Lynch-Mob wirkende Gesellschaft Medea, die schon mal vorher massenvergewaltigte Dienerin Neris und Iason…
Als gerne auf eine „Neuinterpretation“ eingehender Musiktheaterfreund gesteht man Regisseur Peter Konwitschny zu, dass er nicht mehr an die auch im neuen Text mehrfach angerufenen Götter glaubt, dass er keine antiken Figuren auf Kothurnen vorführen will. Doch seine Medea und alle anderen haben keinerlei „Fallhöhe“ – und für eine grelle RTL2-Studie und Anspielungen auf „Desperate Housewives“ ist der betriebene Staatstheater-Aufwand unangemessen groß. Ist das wirklich das Bild einer „starken Frau“, das Konwitschny für feiernswert hält? Dennoch klatschte das gediegene Premierenpublikum animiert und etlichem „Bravo“ stand nur wenig „Buh“ gegenüber.
Das „Bravo“ hatten musikdramatisch schon die beiden tapfer singenden und gekonnt prollig agierenden Söhne von Johannes Rempp und Justus Laukemann verdient, auch der von Christoph Heil gut einstudierte und voll „loslegende“ Chor samt sexy-kessen Brautjungfern, die kurz anrührend klagende Dienerin Neris von Helene Schneiderman, die trutschelige Braut Kreusa von Josefin Feiler, auch der klischeehaft überzeichnete Kreon von Shigeo Ishino. Sebastian Kohlhepp war ein bestechend aussehender Traumschiff-Kapitän als Argonaut Iason mit jungmännlich kernigem Tenor. Die aus Mannheim gastierende Cornelia Ptassek brachte die Bühnenerscheinung für eine abgründig wüste Tragödin mit; sie spielte alle Zumutungen der Regie engagiert und ihr schlanker, nur selten scharfer Sopran schaffte die Anforderungen der hochdramatischen Partie. Dirigent Alejo Pérez betonte den dramatischen Elan von Cherubinis Partitur: ein Hauch von Revolutionsmusik der 1790er Jahre war zu hören im Kontrast zur anrührenden Fagott-Klage um Medeas Elend.
Zurück blieb die Enttäuschung, dass man mit all diesem Potential eine exemplarische und darum „klassisch“ gewordene Tragödie von sexueller Verfallenheit und human blind gewordener Leidenschaft hätte erleben können – schade!