Das Nationaltheater Mannheim hat in den vergangenen Jahren auch in der Opernsparte jeweils eine markante Uraufführung präsentiert: 2010 „Montezuma – Fallender Adler“ von Bernhard Lang, vergangenes Jahre „Superflumina“ von Salvatore Sciarrino. Nun war mit Olga Neuwirth wieder eine Österreicherin an der Reihe. Ihr neues Stück „The Outcast“, dessen heimlicher Held der legendäre weiße Wal Moby-Dick ist, stützt sich auf ein von der Komponistin bearbeitetes Libretto von Barry Gifford und hat bereits eine längere Übertragungsgeschichte hinter sich: Giffords Arbeit rekurriert unter anderem auf den welterfahrenen Roman von Herman Melville (1819–1891) und die „Old Melville“-Monologe von Anna Mitgutsch sowie auf Lautréamont, Lewis Carroll, Edward Lear und Walt Whitman.
Mit „Outcast“ stellte sich die Komponistin in die Tradition des Melodrams, zu der das Programmheft namentlich Arbeiten von Beethoven und Carl Maria von Weber rechnet (nicht aber die von Jean-Jacques Rousseau, der das Genre bereits Mitte des 18. Jahrhunderts maßgeblich entwickelte, oder Robert Schumann, der mit „Manfred“ eines der bedeutendsten Melodramen schuf). Die zentrale Partie des Old Melville ist eine Sprechrolle – in seinem Kopf spielt sich die in antidramatischer Dramaturgie gefügte Szenenfolge eigentlich ab. Anton Skrzypiciel verkörpert in Mannheim den alten Schriftsteller Melville ganz unpathetisch und bringt doch dessen Rückschau auf das Leben (das eigene und das Leben an und für sich) mit sonorem Respekt in die Produktion ein.
Deklamiert zu den sanfteren oder heftigeren Wellen der Orchesterinstrumente wird in nordamerikanischem Englisch, in dem im Übrigen auch gesungen wird: mit elegisch-vorzüglichem Sopran von Trine Wilsberg Lund, recht anrührend von einem eigens gegründeten Knabenchor. Dem quirligen Rudel zehn- bis zwölfjähriger Jungs, die sich immer wieder zu einer an ein Schiff erinnernden Formation sammelten, war die Aufregung einer ersten Premiere ein wenig anzumerken.
Doch machten sie ihre Sache im Sinn der theatralischen Wirkung wirklich gut. Man kann gewiss der Auffassung sein, dass Kinder und Tiere auf der Theaterbühne so wenig zu suchen haben wie auf der Autobahn, wo sie erklärtermaßen stören. Auf den Brettern, die die Welt bedeuten, sorgen sie bevorzugt für eine gewisse Rührung. Noch mehr freilich sollten dies in Mannheim die vom Werk wie von der Inszenierung vorgesehenen Seitenhiebe auf die seit Langem so falsch eingerichtete Welt erreichen, die Hinweise auf den schnöden Mammon und das plakativ ausgestellte Stichwort „Habgier“.
Eugen Drewermann erläuterte im Programmheft das Ungeheure, ein Mensch zu sein, am Beispiel von Melvilles „Moby-Dick“, dem philosophisch und weltanschaulich offensichtlich uneinheitlichen Roman von 1851. Der ist aus der Sicht des Theologen von der Grundüberzeugung genährt, dass sich „alle Bemühungen um Klarheit über unsere Lage in der Welt“ prinzipiell nicht vollenden lassen. Die Uneinheitlichkeit und die Vergeblichkeit der Klärungsbemühungen hinsichtlich existenzieller Grundfragen setzen sich in Olga Neuwirths Werk fort und unterstreichen die Züge des Kontemplativen. Das nicht zuletzt macht den Charakter des postmodernen „offenen“ Kunstwerks aus – für viele wohl das Anregende.
Obwohl das Werk gesellschaftskritische Impulse des Melville-Romans aufgreift, hat es keine ideengestützte oder gar ideologisch motivierte Aufregung im Sinn; diese wird von der Inszenierung mit plakativen Mitteln (im wörtlichen Sinn!) aber doch noch herbeibemüht. Michael Simon, Ausstatter und Regisseur in einer Person, verdoppelte die zentralen Stichworte und Essentials des Text-Konglomerats überdeutlich: Zu den präludierend heranrollenden Orchester-Wellen zeigen die Film-Projektionen über die ganze Breite des Vorhangs milde bewegte Meereswellen und in ihnen einen weißen Wal, der mit seiner gewaltigen Schwanzflosse den Zuschauern fast ins Gesicht schlägt. Ansonsten gibt es, was bei literarischen Vorlagen nicht aus der Welt ist, auch per Video angerührte Buchstabensuppe. Weit dominierender erweist sich ein Blick auf das Seemannsheim Bethel in New Bedford, wo Grabinschriften an die heroisch-gefährlichen Zeiten des Walfangs erinnern. Oder die Totale der wie im Brecht-Theater hochgehaltenen Pappschilder, die ruhmreichere Tage der Arbeits- und Klassenkämpfe beschwören. Die demonstrativ wie von ungeübten Händen gemalt wirkenden Plakate und Wandzeitungen prangern „die Habgier“ an, die falsche Energie- und Finanzpolitik.
„Geld ist nicht alles“ halten die Choristen hoch und „Ihr verzockt unsere Zukunft“. Da ist die Hilfs- und Erfolglosigkeit gleich mitinszeniert: Ein Winkobjekt mit der Aufschrift „Wir sind 99 %“ ist auch in einer Demokratie ein Hinweis darauf, dass er gegebenenfalls kaum etwas nützt. Vielleicht war Wahl des Ausstatters und Regisseurs nicht eben glücklich. Was aber hätte sich mit Olga Neuwirths Spielvorlage anfangen lassen, wenn denn der Wille dazu da gewesen wäre und die Kompetenz!
Einen weit günstigeren ersten Eindruck als die Bühnengestaltung hinterließ das, was sich unter den energischen Händen von Johannes Kalitzke musikalisch entwickelte und durch elektronische Zuspielungen angereichert wurde – eine vielfarbige Ode an das Meer, den alten Mann und das riesige gefährliche Tier. Die erfüllte hundert Minuten zwar nicht ganz ohne Längen. Aber insgesamt mit einem Ton, dem auch manche, die „Neutönerei“ reserviert gegenüberstehen, zumindest attestieren: Es ist interessant, manchmal zu viel gleichzeitig für die verschiedenen Sinne (die dann z.T. auch noch rasch übersetzen müssen): jedenfalls aber hochgradig anregend und immer wieder auch „richtig schön“. Was aber könnte ein Werk des Musiktheaters heute im ersten Anlauf mehr von sich erwarten?
Die Komponistin wollte ihr Näschen dem Publikum zum freundlichen Schlussapplaus nicht zeigen. Sie war kurz vor der Premiere abgereist in der Befürchtung, die Uraufführung werde nicht wirklich sensationell. Aber genau für eine solche verwöhnte Erwartungshaltung gibt es, selbst wenn die Ausführenden handwerklich alles richtig machen würden, keine Garantie. Auf der Premierenbühne stehen die Akteure wie einer alten hanseatischen Weisheit zufolge auf stürmischem Meer oder vor Gericht letztlich in Gottes Hand. Und ein Premierenpublikum ist nun einmal so launisch wie die Jagdgöttin. Kapitän Ahab übrigens muss auf grässliche Weise sterben, und der gejagte Wal kommt davon.