Die Besucher des Küstenstädtchens Aldeburgh in Suffolk erleben, wenn sie nicht eitel Sonnenschein erwischen, die von Osten an die Küste brandende aufgewühlte Nordsee. Trotz der Deichbaumaßnahmen hat sie in der Neuzeit die Hälfte der Ortschaft weggespült. In den letzten Jahrzehnten fand, nicht zuletzt dank des von Benjamin Britten und Peter Pears 1948 ins Leben gerufenen Musik-Festivals, eine kräftige Touristifizierung der Region statt und mit ihr ökonomische Aufwertung.
Freilich ist dort bis heute das, was an Resten aus den Zeiten des harten Fischerlebens, der Landarmut und der kleinstädtischen Enge übrigblieb, kaum zu übersehen – ruinierte Boote, feuchte Hütten, fußkalte Reihenhäuschen, eine nur bedingt weltläufige Originalbevölkerung mit Hang zum reichlichen abendlichen Getränkekonsum, ausgeprägtem Interesse für Klatsch und Tratsch im Kirchspiel.
In dieser abgeschiedenen Ländlichkeit, fernab höherer Bildungseinrichtungen, zivilisatorischer Verfeinerung und realer Freizügigkeit, begann Peter Grimes zu existieren. Das heißt: Er wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts von George Crabbe als exemplarische Figur aus dem ‚Volksleben‘ herausgeschält. Er zog als problematischer Einzelgänger Neugier auf sich und warf die Frage nach nonkonformistischen Lebensformen auf. Als Britten im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in Suffolk zur Schule ging, hatte sich die Lebenswelt der Menschen vom Schlage eines Grimes – noch ohne Strom (oder gar Radio) – so wenig grundlegend geändert wie das soziale Koordinatensystem. Das und die raue Natur bilden nicht nur das colorit locale der im Juni 1945 in Sadler’s Wells Theatre uraufgeführten Oper, sondern die eine Hälfte des ambivalenten Stücks. Der Borough war auch nach dem zweiten Weltkrieg noch gesellschaftliche Realität, als Britten und Pears bereits die zwiespältig aufgenommene Premiere von „Peter Grimes“ miteinander bestritten hatten und sich aus dem ihrer Auffassung nach intriganten und schwulenfeindlichen Londoner Kulturbetrieb nach Aldeburgh zurückzogen.
Hohe Präsenz hat also neben dem aufs Jahr 1830 projizierten Gesellschaftlichen am Ostrand von Merry Old England die Naturkomponente in Crabbes Dichtung. Nicht minder in Brittens Partitur: Das Meer bildet einen cantus firmus. Cornelius Meister lässt es aus dem Orchestergraben aufschäumen und wogen, dass man noch in Reihe 7 die Gischt zu spüren glaubt. Das ORF Radiosymphonieorchester zeichnet auch die feineren Lineaturen der tönenden Naturschilderungen so farbenkräftig nach wie die gewittrigen und stürmischen Wetterbreitseiten. Wie die Flöte ihr morgendliches Vogelgezwitscher über die Streicher-Cantilenen zirkelt, verrät sorgfältige Einstudierung und beschert mitreißende Momente einer musikalisch glückenden Premiere. So, wie man den gegen die Vorherrschaft der abstrakten Kunst gerichteten Realismus von Edward Hopper und die gebrochene Gegenständlichkeit von Francis Bacon in der Kunst des 20. Jahrhundert nicht missen möchte, mag man sich im Theater an der Wien neuerlich gewahr geworden sein, wie selbstverständlich der frische Sound der frühen Britten-Oper zu einer gut sortierten Retrospektive auf die Musik des vorigen Jahrhunderts gehört.
Mangel an Meer und Mehrwert
Zu beklagen ist ein gewisser Mangel an Meer und Mehrwert auf der Bühne. Angedeutet werden sollte die See bzw. mehr noch eine bedrohliche Meererfahrung wohl auch durch die Bühnengestaltung. Aber der hermetische dunkle Raum mit den glatten Wänden, den Johannes Leiacker bauen ließ, verweist eher auf subjektive Wahrnehmung einer ausweglos erscheinenden gesellschaftlichen Situation als auf die vom Unbill der Natur herrührenden Gefahren der ‚Mordsee‘.
Ein altes Bett, ein wenig zum Orchestergraben hin überstehend, mag entfernt an ein auf den Strand gesetztes Boot erinnern. Aber es eignet sich eben nicht zum Fischfang im unmittelbaren Wortsinn, sondern nur im übertragenen: Es dient Peter Grimes als Refugium, mehr noch freilich als Spielplatz fürs deutliche und intensive Zeigen der homosexuellen Bedürfnisbefriedigung – mit dem Ex-Kapitän Balstrode wie mit dem letzten der drei zu Tode kommenden Gehilfen. Dieser noch fast minderjährig wirkende John erscheint in Gestalt von Giorgij Puchalski als unwiderstehliche Versuchung für den elegant-verschlagenen Balstrode, dem Andrew Foster-Williams hinreichend Züge der Intransigenz verleiht. Er bleibt mit seinem nackten Oberkörper eine Herausforderung für Grimes, der den Jungen in seiner Eifersucht mit einem tödlich endenden Arbeitseinsatz bei schwerer See abstraft.
Gewiss: Inszenierung darf und kann einseitig gewichten. Die Produktion von Christof Loy nimmt vermittels der zeitlos bunten Kostümierung von Judith Weihrauch der Handlung die historische Beschwernis, die Erinnerung an die bettelarme Landbevölkerung und alles geographische Kolorit. Sie fokussiert unter Abstraktion von Natur und Gesellschaft auf den Konflikt zwischen den mehr oder minder auffälligen „Außenseitern“ und dem Konformitätsdruck der kleinstädtischen Bürgerwelt. In der profiliert sich Andreas Conrad als Methodist und Scharfmacher für Law & Order, Rosalind Plowright als selbst ernannte und hinsichtlich der mutmaßlichen Schandtaten von Grimes scharfsichtige Hobby-Kommissarin, Hanna Schwarz als lebenserfahrene, vom Scheitel bis zur Stöckelschuhspitze in Rottönen herausgeputzte Kneipenwirtin des „Ebers“ und Kupplerin ihrer beiden schrillen Nichten in den Tüllröckchen.
Insbesondere aber zieht Agneta Eichenholz als Lehrerin Orford die Aufmerksamkeit auf sich: Mit ihren klaren Höhen und kräftigen Tiefen – als noch sehr jugendlich wirkende Witwe, die gegen das Mobben der Menge zu Grimes hält und diesen mit sanften Mitteln zu „bessern“ sucht, aber angesichts der fortdauernden gewalttätigen Zuwendung zu seinen Lehrlingen irgendwann resigniert feststellen muss: „Peter, wir sind gescheitert“.
Aus der Gemengelage im intensiv bespielten schwarzen Geviert hebt sich Joseph Kaiser als Titelfigur und im Wesentlichen als positiver Held ab. Ungebrochen. Unproblematisch ist das nicht. Wer wollte schon, dass einer seiner Söhne, Enkel oder Neffen in die Obhut dieses Triebtäters gegeben worden wäre? Der hoch leistungsfähige Tenor und die Inszenierung heben nicht auf die Ambivalenz der Rolle von Peter Grimes ab, sondern erwecken einseitig Sympathie und Mitleid mit einem herzensgrundguten „Ausgestoßenen“, dem schon deshalb die Empathie gilt, weil für ihn im heutigen Russland „in einem kleinen Dorf die Situation womöglich identisch“ wäre (Loy im Programmheft). Trotz dieser zutreffenden Erkenntnis beschönigt Loy die blutgetränkte, einem elenden Boden verhaftete Geschichte nicht nur durch die säuberlich-schöne „Alltagskleidung“ unbestimmter Provenienz, sondern auch durch die Fortschreibung des im Werk angelegten allzu schlichten Strickmusters der Konfliktkonstellation. Da kann, ja: müsste szenische „Deutung“ heute – nach der Gleichstellung der gleichgeschlechtlichen Partnerschaften mit der Ehe – wohl anderes leisten als einen solch schönen Historismus. Indem sie dies jedoch vermeidet, zielt sie auf breitestmögliche Akzeptanz. Christof Loy hat sie erreicht. Das unterscheidet ihn drastisch von Britten.