„Le vin herbé“, das aus den Spielplänen verschwundene Meisterwerk Frank Martins war der Zaubertrank der zu Ende gegangenen RuhrTriennale. Getragen von der Jungen Deutschen Philharmonie unter Friedemann Layer, einem handverlesenen, hochkarätigen Sänger- und Schauspieler-Ensemble sorgten Regisseur Willy Decker und sein Ausstatter Wolfgang Gussmann für den Theater-Höhepunkt dieser Saison. Nach Festival-Schluss wurde Decker zum künftigen RuhrTriennale-Intendanten proklamiert. Der Zauber könnte vorhalten.
„ Un beau conte d’amour et de mort?“ – „Ein Lied von Liebe und Tod?“ Die Frage des Chors kommt aus dem Pechschwarzen. Musik, die aus dem Dunkeln aufsteigt wie eben das uralte Lied von Tristan und Königin Iseut. Distinkter Chorgesang, seraphische Streicherklänge, die nicht den Sehsinn, der die Oberflächen abtastet, bedienen. Was es auf der von Wolfgang Gussmann eingerichteten Bühne zu sehen gibt, wenn sich das Flügeltor schließlich hebt, kommt ohne grelle Farben aus, besticht durch eine archaisch-klare Formensprache.
Kreis und Linie, Krone und Boot, Kugel und Schwert. Letzteres senkt sich von der Decke der alten Gebläsehalle dieser umfunktionierten Duisburger Industriekathedrale, ohne doch die Liebenden, die da unten eingeschlafen sind, trennen zu können. Am Schwert können sie nicht zugrunde gehen. Sie sind geborgen in ihrer Liebe. Nur an ihr werden sie sterben. Liebe, stärker als der Tod. Eine Plattitüde? Nicht unbedingt, bedenkt man die Entstehungszeit dieses „weltlichen Oratoriums“.
1938. Frank Martin beginnt die Arbeit an der Wort-für-Wort Vertonung von drei Kapiteln aus „Le Roman de Tristan et Iseut“ (1900) des französischen Mediävisten Joseph Bédier. 1942 beendet er den „Vin herbé“, womit der Komponist erstens den Beweis erbracht hat, dass es eine Zukunft für den Tristan-Stoff auch nach Wagner gibt und dass dieser zweitens als veritabler Gegenentwurf zur Überwältigungsästhetik geflochten werden kann, ohne seine Zaubertrank-Qualiät einzubüßen. Mitten im Krieg, „mitten in den entsetzlichsten Hass-Exzessen, zu denen Menschen fähig sein können“, so stellt bewundernd Regisseur Decker fest, „schreibt Martin ein leises, stilles, unbeirrt konzentriertes Stück über die Liebe“. Im März 1942 besorgt der Auftraggeber, der Züricher Madrigalchor, die konzertante Uraufführung. Im Mai 1943 kommt es am Theater Braunschweig zur konzertanten deutschen Erstaufführung, die der 16-jährige Hans Werner Henze tief berührt erlebt, ergriffen von der strengen Schönheit dieser Musiksprache. Dann wird es selbst still um dieses Meisterwerk. Im Positionskampf der Nachkriegsavantgarde ist für solche Inkommensurabilität kein Platz. Bliebe somit das Verdienst von Jürgen Flimm, einem Theatermenschen, der sich in das Klassische an der Moderne verliebt hat, Martins „Vin herbé“ für die Bühne wiederentdeckt, wieder reklamiert zu haben.
„ Vin herbé“ – das ist der gewürzte Wein, den Tristan und Iseut trinken, um daran, nicht an ihrer Todesverfallenheit, dieser unseligen spätbürgerlichen Lieblingsidee, zu sterben. Zugleich ist dieser „Vin herbé“ ein „weltliches Oratorium“ für zwölf Sänger und acht Instrumentalisten, Streicher und Klavier, die in Duisburg platziert sind in einer mühlsteinartigen Mulde im Bühnenzentrum: ein Schoß für Orchester und Chor. Kammermusikalische Intimität.
Alles hat hier seinen Ort und ist doch in Bewegung. Aus dem Chor lösen sich die Protagonisten. Choristen werden zu Schauspielern, treten in Gruppen zusammen, lösen sich, formieren sich neu. Nichts Statuarisches ist an dieser Inszenierung, womit Decker tatsächlich die konstatierte Offenheit des Werks, das in keine der üblichen Schubladen passt, in ein zauberhaftes Schweben übersetzt hat. Berückend zu sehen, wie die Musiker in der Szenerie agieren und doch außer ihr stehen – vergleichbar einer allen Moden enthobenen Musik.
Dass Willy Decker dieses Stück gegen den landläufigen Theatertrend inszeniert und gerade damit für den Musik-Höhepunkt in einem insgesamt durchschnittlichen RuhrTriennale-Abschluss gesorgt hat, genügt, um die Wahl des Aufsichtsrats Kultur Ruhr GmbH freudig zu begrüßen, berechtigt sie doch, eben mit Blick auf die Spielzeit 2009/11, zu den schönsten Hoffnungen. Ein Theaterbewusstsein, das der ewigen Verpoppung und zwanghaften Multimedialisierung widersteht, eines, das an die Differenz des Werks glaubt, an seine Ferne zu einer Wirklichkeit zwischen Obi und Aldi, Kino und Comedy, hat seine Zukunft, sein Publikum und – soviel hat dieser Zaubertrank gezeigt – seine Stoffe noch vor sich.