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Christian Miedl, David Zimmer. Foto: © Oliver Berg
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Melange aus Realität und Fantasie – Peter Eötvös‘ „Angels in America“ am Theater Münster

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Als das Theaterstück „Angels in America“ 1991 am Broadway uraufgeführt wurde, wurde sein Autor Tony Kushner damit über Nacht berühmt. Wenig später war das Stück auf vielen internationalen Bühnen zu erleben und erhielt mehrfach Auszeichnungen, darunter 1993 den Pulitzer-Preis. Dreizehn Jahre später beendete der Komponist Peter Eötvös die Arbeit an seiner Oper, die sich am Inhalt von Kushners „Angels in America“ orientiert und 2004 im Pariser Théâtre de Châtelet erstmals auf der Bühne zu sehen und zu hören war.

Die zweieinhalb Stunden auf der Bühne und im Orchestergraben sind alles andere als „leichte Kost“, weil Vielschichtigkeit des Geschehens und Reichtum der Musik höchste Konzentration verlangen – zumal, wenn wie jetzt im Theater Münster, aus urheberrechtlichen Gründen englisch gesungen und auch englisch übertitelt wird, werden muss.

Drei eigenständige Geschichten stehen im Zentrum der Handlung. Da ist Joseph Pitt, der junge New Yorker Anwalt, der sich zur Sekte der Mormonen zählt und mit Harper Pitt verheiratet ist – wohl kaum zu beiderseitigem Glück. Denn der Umstand, dass in dieser Ehe so gar nichts passiert, treibt Harper in die Tablettensucht. Sie ist im Grunde ein Wrack. Ganz das Gegenteil davon, jedenfalls nach außen hin: Roy Cohn, einer dieser machtgeilen, fiesen Strippenzieher, die gleich mit einer ganzen Armada von Mobiltelefonen bewaffnet sind und offenbar das eigentliche Sagen in Politik und Ökonomie haben. Ein Prahlhans mit glänzenden Beziehungen in Kreise der Justiz und der Verwaltung – und natürlich zum Präsidenten. Diese Geschichte über Roy Cohn (den es real gab) ist wie die von Joseph Pitt eine des Coming-Outs. Und dies in Zeiten von AIDS, halt in den 1980er Jahren mitten in der Reagan-Ära. An dieser Krankheit, damals als Pest des 20. Jahrhunderts dämonisiert und bisweilen als Zeichen eines bevorstehenden Weltuntergangs aufgefasst, leidet auch Prior Walter. Als „Kuss des Todesengels“ beschreibt er sie. Und an ihr zerbricht seine Freundschaft mit Louis Ironson, der nicht damit klarkommt, dass AIDS unaufhaltsam Priors Körper zerstört – und beider Leben.

Diese drei Erzählstränge stellt Eötvös in den siebzehn Szenen seiner Oper nebeneinander, verbindet sie aber, denn alle Protagonisten schweben gleichermaßen in einem Zustand zwischen knallharter Realität und halluzinatorischen Vorstellungen unterschiedlicher Ausprägungen: Harper Pitt, die längst ahnt, dass ihr Joe schwul ist, fantasiert von einer Flucht in die Antarktis zu den Eisbären (wo es sie aber gar nicht gibt); Prior Walter hat die Vision eines Engels – der dann auch vom Schnürboden herabsinkt und ihm nichts weniger als die Rettung der Welt vor der Apokalypse anträgt. Ein Engel des entgegengesetzten Typs verfolgt Roy Cohn: es ist der böse Geist der Ethel Rosenberg, die 1953 mit Cohns Hilfe wegen Spionage auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet wurde. Ein quälender Geist, der Schuldgefühle auslöst.

Dieses gleichzeitige Neben-, aber auch Ineinander macht Regisseur Carlos Wagner sehr schön deutlich. Christophe Ouvrard baut ihm dazu eine dreiteilige Bühne mit Waschsalon, Burger-Bude und Männerpissoir, rechts und links von Telefonsäulen flankiert – Szenario für ein hochkomplexes Gebilde, in dem die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fantasie zunehmend zerfließen, in dem sich Vorstellungen eines praktizierten Judentums ebenso artikulieren wie die durchaus abstrusen Heilserwartungen der Mormonen. Den Anker aber liefert die AIDS-Thematik – und diese lässt das Stück im Jahr 2018 vielleicht denn doch ein wenig antiquiert wirken. AIDS ist längst nicht mehr die Bedrohung der Zivilisation und der Umgang mit Schwulen, Lesben, Transsexuellen und so weiter ist toleranter geworden.

Das könnte, zumal in den Vereinigten Staaten von Amerika, allerdings auch wieder ins Gegenteil umschlagen. Und da behält „Angels in America“ seine Aktualität: Polarisierung der Gesellschaft, Entsolidarisierung, Stigmatisierung, Diffamierung ganzer Berufsgruppen, Verbalattacken gegen Minderheiten, unverhohlenes Lügen… all dies geschieht nicht mehr aus der „zweiten Reihe“ der Verantwortlichen heraus, das leistet sich heutzutage der oberste Repräsentant von „gods own country“ ganz persönlich. Ironie der Geschichte: Roy Cohn war einer derjenigen, die Donald Trump in den 1970er Jahren protegiert und „great“ gemacht haben! Freilich hat Cohn das nicht mehr miterlebt: er starb 1986 an AIDS.

Faszinierend ist Peter Eötvös‘ Musik, die selten einmal laut daherkommt. Im Gegenteil: sie schöpft aus einem reichen Fundus an Farben, auch an Stimmungen, changiert zwischen Poesie und Melancholie, zwischen Derbheit und Zerbrechlichkeit. Und ist geprägt vom dem, was dann auch den Sängerdarstellern abverlangt wird: eine Melange aus Realität und Fantasie. In dieser Hinsicht leistet das achtköpfige Ensemble in Münster Überragendes. Allen voran Kathrin Filip, die ihre geradezu „mörderische“ Partie als „The Angel“ stimmlich überragend und mit nie versiegender Kondition absolviert. Weniger Dramatik, dafür umso mehr Resignation und Verzweiflung legt Kristi Anna Isene in die bedauernswerte Harper Pitt; Suzanne McLeod (als Hannah Pitt, Rabbi Chemelwitz, Henry und Angel Asiatica) zeigt wie gewohnt vokale und darstellerische Präsenz und Ausdrucksfähigkeit – Qualitäten, mit denen Christian Miedl als Prior Walter nicht minder punkten kann. David Zimmer ist ein strahlend schöner Tenor, der glaubwürdig das Hin- und Hergerissensein als Louis Ironson verkörpert. Ähnlich überfordert mit seinem eigenen Coming-Out: Filippo Bettoschi als Joseph Pitt, während Christoph Stegemann als skrupelloser Roy Cohn keinen Zweifel an seinem Selbstbewusstsein lässt. Yosemeh Adjei ist der Krankenpfleger Belize (und Mr. Lies, Woman und Angel Africanii) mit kultiviertem Counter.

Generalmusikdirektor Golo Berg steht am Pult des klein besetzten Sinfonieorchesters Münster mit zum Teil ungewöhnlichem Instrumentarium wie Kontrabassklarinette, akustischer und elektrischer Gitarre, Hammond-Orgel. Dass Peter Eötvös, der sich diese Münster-Premiere nicht entgehen ließ, sich am Ende auf der Bühne Golo Berg gegenüber als sehr zufrieden zeigte, sprach Bände.

  • Weitere Termine: 27. 2., 10. 3., 16. 3., 21. 3., 23. 3., 29. 3., 18. 4. 2018

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