O Mensch, gedenke, dass du sterblich bist! – Haben wir ein solches Memento Mori nötig? Müssen wir eigens daran erinnert werden, was wir schon in den letzten Fasern unseres Geistes und Körpers verinnerlicht haben? Eben dass wir sterblich sind. Um daran zu denken, bedarf es auch nicht des medial vermittelten Sterbens in Syrien, Irak, Gaza, der Ukraine und dem großen Rest der Welt. Schließlich wurden wir gerade durch das Wissen um unsere eigene Endlichkeit einstmals überhaupt zu Menschen. Homo Sapiens aß vom Baum der Erkenntnis, trat aus dem blind wirkenden Naturzusammenhang und wurde seiner selbst gewahr. Fortan waren wir nicht mehr Teil der instinkthaft sich reproduzierenden Natur, Gattung, Sippe, sprich Fauna des Gartens Eden. Wir begriffen uns selbst als Individuum mit ebenso individuellem Schicksal – mit Geburt, Leben und Tod.
Nicht als Krone der Schöpfung erfuhren wir damit unsere maximale Kränkung – wie gemeinhin behauptet –, sondern es war genau umgekehrt. Die bittere Einsicht unserer Hinfälligkeit als Staub und Asche im rücksichtslosen Kreislauf der Natur beantworteten wir mit unserer narzisstischen Selbstüberhöhung zu Herren der Schöpfung.
Gemäß barocker Theorie ist nach Gott der Künstler der zweite Schöpfer. Und dessen Werk, die Kunst, ist vielleicht noch heute im Innersten ein Schrei gegen den Tod, oder wie Ernst Bloch sagte, „ein Ruf ins Entbehrte“, ein Ruf nach dem verlorenen Paradies des Eins-seins des individuierten Menschen mit sich und der Welt. Warum schließlich gibt es so wahnsinnig viel Musik? Überall auf dem Globus macht und hört man Musik? Warum wird immer noch mehr und mehr neue Musik imaginiert, komponiert, interpretiert, produziert, reproduziert, distribuiert, rezipiert? Das humane Bedürfnis nach Musik scheint unstillbar. Vielleicht liegt es daran, dass diese flüchtige Zeitkunst unserer eigenen Endlichkeit phänotypisch am nächsten ist und wir bei Musik immer zugleich beides erleben: ein Memento Mori und eine tönende Feier des Lebens. Zielte Friedrich Nietzsches dunkle Behauptung „Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum“ vielleicht genau darauf? Schließlich schlägt die schreckende Todesfratze wie eine barocke Vanitas-Allegorie um in pralle Erdenlust. Der Tod ist nichtig, wichtig allein ist das Leben, hier und jetzt.
Zwanzig Uraufführungen sind allein bei den Donaueschinger Musiktagen vom 17. bis 19. Oktober zu erleben, die sich dieses Jahr unter dem Motto „und+“ doppelbegabten Komponisten widmen, eben solchen, die auch Malen, Zeichnen, Dichten, Fotografieren, Filmen, Inszenieren, Installieren… Im Münchner Herkulessaal bietet die BR-Konzertreihe Musica viva am 24. Oktober gleich drei Uraufführungen, von Arnulf Hermanns neuem Werk für Sopran und Orchester sowie von Marco Stroppas „Nel fuggir del tempo; e´sole“ für acht Hörner und Sir Harrison Birtwistles Klavierkonzert „Responses. Sweet disorder and the carefully careless“. Den Oktober beschließt vom 24. bis 31. die zweite Ausgabe des Festivals „ZeitGenuss“ an der Musikhochschule Karlsruhe mit sechs Novitäten von Studierenden der dortigen Kompositionsklassen von Wolfgang Rihm und Markus Hechtle sowie Uraufführungen von Gerhard Stäbler, Kunsu Shim, Alessandro Solbiati, Beat Furrer und Jorge E. Lopèz.
Weitere Uraufführungen:
2.10.: Camille van Lunen, Flautato dal mattino alle note, Kreuzkirche Kassel
2./10.10.: Dieter Ammann, neues Ensemblewerk, Philip Maintz, furia Klavierkonzert, Festival Musica Straßburg
9.10.: Julien Jamet, Difference is spreading, Festival d’Automne Paris
18.10.: Moritz Eggert, Ich akzeptiere die Nutzungsbedingungen für Bariton und Streichorchester, Paulskirche Frankfurt
24.10.: Toshio Hosokawa, Konzert für Streichquartett und Orchester, Musik der Zeit Köln
24.10.: Christian Wolff, neues Werk, Pinakothek der Moderne München