Was wären Festspiele ohne Wagner – und Wagner: das bedeutet in vielen Theatern Überwältigung durch die Musik aus dem Orchestergraben und fulminante Aktion auf der hochtechnisierten Bühne dahinter. Im Erler Passionsspielhaus ist dieses Verhältnis umgedreht: Hinten das Orchester auf einer hohen Tribüne, durch einen Gazevorhang zu ahnen; eine breite Spielfläche, direkt vor dem Publikum, mit sehr begrenzten technischen Möglichkeiten. Genau daraus hat die Wagner- und „Walküre“-erfahrene Brigitte Fassbaender faszinierenden Gewinn gezogen – und Ovationen geerntet.
Nach rund fünfzig Jahren Wagner-Auftritten bietet die achtzig Jahre alt Grande Dame jetzt eine Quintessenz ihrer „Ring“-Erfahrungen. Schon ihre „Rheingold“-Inszenierung fesselte mit eigenen Zügen (vgl. nmz online 12.07.2021). Jetzt führt sie in der „Walküre“ Götter und Menschen zusammen. Hundings Zuhause zeigt eine braun gemusterte, spätbourgeoise Sitzgruppe in weiter Halle mit passend ödem Tapetenmuster, hinten begrenzt durch einen Baumstamm, aus dem ein toter Ast ragt – es der Schwertknauf Nothungs. Sieglinde sitzt ängstlich im herein blitzenden Gewittersturm und schaut im alten Röhrenfernseher eine Wolfs-Doku. Blitzeinschlag, der Fernseher tot - und Siegmund tritt auf. Zum kurzen „Wonnemond“ erscheinen beiden Wälsungen die Wände mit hell-lila Blütenzweigen überzogen. Siegmunds Schwert, Hundings Jagdgewehr und später Wotans Speer stehen gegeneinander. Der weißhaarige Geheimrat Wotan sitzt dann inmitten von projizierten Steinquadern-Mauern am Arbeitstisch und leidet an seinen „trüben Verträgen“. Eine kleine Bodensenke wird zum Kabinett, in dem er seine Grandezza beschwört und das grandiose Dachgebälk des Passionshauses als Weltenbau erstrahlt, ehe angesichts seines Scheiterns völlig zusammenbricht und von Brünnhilde liebevoll zu neuer Scheingröße aufgebaut wird. Dort liegen später Sieglinde und Siegmund vor seinem Ende letztmals liebevoll beieinander, ehe Kampf, Tod und Flucht im Blackout enden.
Zum „Walküren-Ritt“ jagen acht wilde Mädels in schwarzer Lack-Montur umher, waschen in einem flachen Becken in der Bühnenmitte tote Helden zur Weiterverwertung in Walhall. Beim wechselseitigen Begrüßen und dann Warten auf Brünnhilde toben sie immer wieder kleine Schrägpodien vor dem Publikum hoch - „Punk“ und „Gothic“ auch hier textverständlich und dazu attackenartig hautnah. Zur finalen Abrechnung mit der eigenständig denkenden und handelnden Brünnhilde lässt Wotan einen kleinen Felssockel hochfahren: zunächst Verhandlungstisch – und dort zur grandiosen Steigerung der Versöhnungsmusik eine bislang nie inszenierte Besonderheit: ein langer und leidenschaftlicher Kuss zwischen Vater und Tochter – gemäß Wagners Begeisterung für den in der Antike Göttern vorbehaltenen Inzest. Der Sockel dann auch Schlafliege für Brünnhilde, ehe der längst alles beobachtende Loge im knalligen „Rheingold“-Kostüm mit großer Feuerzeugflamme eine Lösung signalisiert und die weite Bühne mit rotem Feuerrauch umgrenzt.
Doch nicht diese gelungen „kleinen“ Szenerien und zeitlos heutigen Kostüme Kaspar Glarners prägen den Abend, sondern die detailreiche, mehrfach neue und immer wieder anrührende Feinzeichnung dieser exemplarischen Figuren durch Fassbaenders hochsensible, die im oder hinter dem Text liegenden Emotionen sichtbar machende Personenregie. Das gipfelt nach vielen kleinen Reaktionen etwa darin, dass Sieglinde ihr Kleidchen auszieht – und dann wirft sich ein jahrelang unterdrücktes zartes Wesen im Unterkleidchen ihrem Liebeserlöser in die Arme. So wird die oft „lange“ Welt-Erzählung Wotans im 2.Aufzug zu einem vielfach intimen, oft mitleidenden „Dialog“ durch das Miterleben, Nachempfinden und Kommentieren Brünnhildes. Ihre Wandlung zur vermeintlichen Retterin der Liebenden ist nachvollziehbar. Irina Simmes zartgliedrig anmutige Sieglinde wird nicht nur vokal nach ihren überwältigenden Ausbrüchen in eine Weltkarriere führen: Brünnhilde ahnt sofort ihre Schwangerschaft und das zuvor wütende Mannsbild Wotan wagt ihren Körper beim Trauern um den toten Siegmund nicht tröstend zu berühren – und hält nur fassungslos den ermordeten Sohn in den Armen. Unter den vielfältigst gezeichneten Walküren begehrt eine wiederholt trotzig auf: Waltraute, die ja dann in der „Götterdämmerung“ noch eine Wende versucht – eine zum „epischen Erzählen“ Wagners perfekt passende „Vorausdeutung“. Brünnhildes und Wotans Abschiedsringen: ein fesselndes Drama auf Ibsen-Kammerspiel-Niveau wie es sonst derzeit nur ein Christof Loy mit Sängern zu inszenieren vermag. Und am Ende geben sich Wotan und Loge selbstgefällig die Vertragshand: ein klassischer Männer-Deal… und wir ahnen, wie alles götterdämmernd im Feuer enden wird…
In Erl war dieser ganze Schicksalsumbruch auch frappierend textverständlich und vor allem mit so viel Wagner-Piano wie seit Jahren nicht mitzuerleben. Eine Leistung auch von Erik Nielsens Dirigat, dem dann nur bis in die Mitte des 2.Aufzugs oft der klangliche Biss, das düstere Blech-Drohen und das dramatische Vorwärtsdrängen fehlten. Dennoch war der Schlussjubel einhellig: mit Simon Baileys trotz vokalem Pathos hin- und hergerissenem Wotan, der wissend reifenden Brünnhilde Christiane Libors, die mit strahlendem „Hojotoho“ Wotans Hand zur Kämpferischen Faust formte, mit Clay Hilleys bulligem Siegmund und entsprechend viril strotzenden „Wälse“-Rufen, mit Anthony Robin-Schneiders finster-selbstgefälligem Hunding-Riesen hin zu Claire Barnett-Jones‘ wuchtiger Fricka und allen Walküren war da ein exzellentes Ensemble versammelt – bei aller Differenzierung gelang eine Gesamtleistung, die Wagner als „Gesamtkunstwerk“ signalisierte.